Winterspiele

Ein Haufen Scherben auf dem Boden, der Christbaumständer ragte schief in die Luft. Sie hob die einzige unzerbrochene Weihnachtskugel auf und betrachtete sich darin. Ihre Nase ein Berggipfel, das Zimmer um sie herum von einem unsichtbaren Punkt hinter ihrem Kopf eingesaugt. Sieben Jahre lang hatte sie sich an die Spielregeln gehalten. Aber was für einen Sinn ergab es, sich an die Spielregeln zu halten, wenn man die einzige war?

Er hatte am Rand der Piste gestanden und war dann einfach losgefahren. Kein Blick nach hinten, keiner zur Seite. Nur mit Mühe gelang es ihr, ihm auszuweichen und etwas unterhalb von ihm ihre Skier zum Stehen zu bringen. Sein erschütterter Gesichtsausdruck ließ ihren Ärger verpuffen. Er war attraktiv, vielleicht sieben, acht Jahre älter als sie, seine Haltung hatte etwas Herrschaftliches an sich. Als er sich entschuldigte und sie zu einem Kaffee in die Skihütte einlud, sagte sie spontan ja.
Es war ihr erster Urlaub, seit sie vor einem halben Jahr ihr Studium der Informatik mit einem Doktortitel beendet und bei einer großen IT-Firma als Consultant angefangen hatte. Ihr Verdienst war ausgezeichnet, sie konnte sich den teuren Skiausflug problemlos leisten und sogar noch ihre Freundin einladen. Früher war sie mit ihren Eltern nach Kärnten gereist. Bis zu deren Tod hatte es alljährlich das immer gleiche Ritual gegeben: Kerzen, Baum und Braten am Weihnachtsabend, anschließend Sonne, Schnee und Ski fahren in den Bergen. Für sie war es die schönste Zeit des Jahres.
In der Hütte drängten sich die Menschen, sie nahmen ihre Getränke mit nach draußen und hockten sich nebeneinander auf eine Fensterbank. Wie selbstverständlich duzte er sie. Sie kannte ihre Wirkung auf Männer, viele hatten ihr gesagt, wie gut sie aussähe und dass sie Charme besäße. Sie war nicht leicht herumzukriegen. Doch er brachte sie zum Lachen, sein Werben war witzig und unkonventionell. Und er hatte dieses wunderbare Jungengrinsen. Dass er anstatt des Kaffees einen Jagertee trank, störte sie nicht.
Zwei Monate später zog er ihr hinterher und bei ihr ein, seine Stelle im Büro eines kleinen, mittelständischen Unternehmens bot keine Aufstiegschancen. In der Großstadt, in der sie lebte, fand er schnell einen neuen Job mit besseren Aussichten. Und schließlich war in der modernen Maisonette-Wohnung, die sie sich von ihrem Erbe gekauft hatte, ausreichend Platz für zwei vorhanden.
Im nächsten Winter feierten sie zum ersten Mal gemeinsam Weihnachten. Schon Wochen vorher erstand sie in einem schicken Kaufhaus sündhaft teure Christbaumkugeln, die sie zwei Tage vor dem Fest andächtig an die Zweige einer Blautanne hängte. Sie buk die Plätzchen ihrer Kindheit und kochte Braten mit Klößen und Rotkraut. Als er vorschlug, zur Feier des Tages eine Flasche Sekt zu öffnen, lehnte sie ab, sie mochte keinen Alkohol. Ihr Vater war an einer Leberzirrhose gestorben.
Nach den Feiertagen fuhren sie in die Ferien nach Kärnten, in den Ort, in dem sie sich kennengelernt hatten. Ihre Pension lag direkt am Skilift und bot Sauna und Frühstücksbuffet. Er wäre lieber in einem großen Hotel mitten in der Stadt abgestiegen, doch sie wollte unbedingt in das kleine Haus, in dem sie schon mit ihren Eltern gewohnt hatte und die Angestellten sie wie eine alte Bekannte behandelten.
Es lag genügend Schnee, sodass sie ihre Tage auf der Piste verbrachten. Ebenso wie sie hatte er schon als Kind Ski fahren gelernt, seine Technik war gut, sein Schwung kraftvoll. Trotzdem konnte er mit ihrem Tempo nicht mithalten. Wie eine Schneekönigin wedelte sie die Hänge hinab und zog mit ihrem Können und ihrem Aussehen die Blicke auf sich. Seine Hüttenpausen wurden häufiger, am Ende der ersten Woche stieg er von Kaffee auf Jagertee um.
Im Winter darauf heirateten sie, in einer kleinen Bergkapelle in Kärnten. Der Pfarrer sprach von Spielregeln, die wichtig seien für das Zusammenleben, und dass eine Ehe nur dann funktioniere, wenn beide Seiten sich an sie hielten. In guten wie in schlechten Zeiten.
Zur Gaudi der Gäste veranstalteten sie nach der Trauung ein kurzes Abfahrtsrennen, das sie trotz ihres Brautkleids gegen ihn gewann. Am Abend, bei der Party, trank er wieder Jagertee, zu viel diesmal, sein Gesicht wurde rot, die Augen stumpf. Sie kannte die Anzeichen und ließ ihn von Freunden in die Pension bringen.
Er kotzte die halbe Nacht. Anstatt sich zu entschuldigen, beschwerte er sich am nächsten Morgen darüber, dass sie ihn dumm hatte dastehen lassen. Nicht das verlorene Rennen allein sei das Problem, sagte er, sondern auch, mit welcher Selbstverständlichkeit sie ihren und seinen Freunden erzählt hätte, dass sein Gehalt um so vieles niedriger sei als ihres und sie daher die Hochzeit komplett hätte finanzieren müssen.

Sie vereinbarten Spielregeln. Kein Alkohol zu Hause. Keine Wettrennen, die er verlieren musste. Keine Gespräche in Gegenwart anderer über ihr unterschiedliches Gehaltsniveau.

Die nächsten fünf Jahre verliefen gut. Sie feierten Weihnachten zu Hause und reisten zum Skifahren in die Berge, immer an den gleichen Ort, immer in die gleiche Pension. Hin und wieder gab es einen milden Jagertee-Exzess oder ein Bier zu viel auf einer Feier. Kurz dachten sie darüber nach, Kinder zu bekommen, verwarfen den Gedanken jedoch wieder, weil eine Familiengründung mit großem organisatorischem Aufwand und bedeutenden finanziellen Einbußen verbunden gewesen wäre.
Als sich für ihn im Job erste Aufstiegschancen boten, hatte sie bereits zwei Karrierehürden genommen und war im oberen Management angelangt. Sie konnten sich nun einen Sportwagen leisten und teuren Urlaub nicht nur im Winter machen, sondern auch im Sommer.
Der Tag, an dem seine lang ersehnte Beförderung abgelehnt wurde, war ein Mittwoch. Sie wusste, dass etwas nicht stimmte, noch bevor sie das Wohnzimmer betrat.
Es roch nach Alkohol.
Schnarchend lag er auf dem Sofa, die leere Schnapsflasche neben sich. Sie hielt die Luft an, angelte sich den Brief, der auf dem Couchtisch lag und zog sich in die Küche zurück. Danach wusste sie Bescheid.
Nachdem er seinen Rausch ausgeschlafen hatte, erzählte sie von ihrem Vater, der Alkoholiker gewesen war, und von ihrer depressiven Mutter, die das Leid irgendwann nicht mehr ertragen und sich umgebracht hatte.
Er versprach, nie wieder einen Tropfen zu trinken. Sie glaubte ihm.
Ein halbes Jahr später verlor er seinen Job. Die Motivation sei weg gewesen, erklärte er ihr. Nachdem die Beförderung abgelehnt worden sei, hätte er sich zu nichts mehr aufraffen können. Er versprach, sich schnellstmöglich wieder eine neue Arbeit zu suchen.
Er ging zum Jobcenter, aber dort gab es keine Beschäftigung für ihn, die seinen Vorstellungen entsprach. Seine Sachbearbeiterin versuchte ihm klarzumachen, dass er zu alt war und weder die Qualifikation noch den Lebenslauf besaß, um für die angestrebte Gehaltsklasse infrage zu kommen. Selbst als er sich nach unten orientierte, war die Auswahl sehr begrenzt.
Wenn sie jetzt abends nach Hause kam, roch sie über den Pfefferminzdunst der Fisherman’s-Friend-Dragees hinweg in seinem Atem, dass er getrunken hatte. Sie stellte ihn zur Rede, aber er stritt es ab. Er versteckte seinen Schnaps, allerdings hatte sie lange genug mit einem Alkoholiker zusammengelebt, um jeden noch so geheimen Platz zu kennen. Sie erinnerte ihn an die Regeln, die sie vor Jahren aufgestellt hatten und an sein Versprechen. Er zeigte sich reumütig. Trotzdem hatte er am nächsten Abend wieder eine Fahne.
Auf die Jobangebote des Arbeitsamts reagierte er bald nicht mehr, deshalb strichen sie ihm die Unterstützung. Als er eines Abends stockbesoffen auf dem Sofa hockte und sie ihm die Flasche wegnehmen wollte, ging er auf sie los. Natürlich war sie schneller, er stolperte über eine Teppichkannte und brach sich ein Bein.
Sie dachte daran, sich scheiden zu lassen, doch dann erinnerte sie sich an ihre Trauung in der kleinen Bergkapelle, daran, was der Pfarrer gesagt hatte. In guten wie in schlechten Zeiten. Also wollte sie ihm noch eine Chance geben. Sie erzählte ihm von den Anonymen Alkoholikern, davon, dass sie nur bei ihm bleiben könne, wenn er mit dem Trinken aufhöre. Er weinte, bat sie um Verzeihung und versprach, die Treffen zu besuchen.
Sie nahm sich Urlaub, um ihm beim Entzug beizustehen. Es war schwierig, aber gemeinsam schafften sie es. Zu seinem ersten Treffen der Anonymen Alkoholiker fuhr sie ihn, weil er noch nicht wieder ohne Krücken laufen konnte. Später ging er alleine.

Sachte rieb sie mit dem Daumen über die glänzende Oberfläche der Christbaumkugel, rieb über ihr eigenes, verzerrtes Gesicht. Aus der Küche ertönte Fluchen, dann das Scheppern von Geschirr, das auf Fliesenboden zerschellte. Sie hörte, wie er durch den Flur schlurfte. Die Wohnzimmertür schwang auf, er schrie: „Wo hast du den verdammten Schnaps versteckt?“
Sie sah ihn an. Speichel rann silbrig vom Mundwinkel über sein Kinn, das unrasiert war. Er atmete schwer, sie konnte seinen Dunst riechen, obwohl er noch drei Meter entfernt war. Sie unterdrückte ein Würgen.

Nein, es machte keinen Sinn, sich an die Spielregeln zu halten, wenn man die einzige war, die das tat.

Langsam hob sie die Hand, mit der sie die Christbaumkugel hielt, dann holte sie aus und schleuderte ihm das Ding mitten ins Gesicht. Er jaulte auf. Mit einem Satz sprang sie über die umgekippte Blautanne und entging so seinem stolpernden Angriff.
„Du bist zu langsam!“, fauchte sie. „Du bist immer zu langsam. Du wirst mich nie kriegen!“
Sie rannte durch das Zimmer und riss die Tür zum Balkon auf. Etwas von dem Schnee, der in der Nacht gefallen war, hatte den Tag überdauert und machte den Boden gefährlich glatt. Vorsichtig legte sie die drei, vier Schritte bis zum Geländer zurück. In der Dämmerung waren nur noch Schemen zu erkennen, in den umliegenden Häusern brannten bereits ein paar Lichter. Als sie ihn kommen hörte, drehte sie sich um. Mit einem Wutschrei wollte er sich auf sie werfen, doch sie wich geschickt zur Seite aus. Er schlitterte gegen die Metallstangen, hatte zu viel Schwung, konnte die Balance auf dem glatten Untergrund nicht halten und kippte mit dem Kopf voran über das Geländer. Sein Schrei war der eines verwirrten Tiers. Einen Augenblick lang hielt sie die Luft an, dann wagte sie es, nach unten in den Hof zu schauen. Sie erkannte die Umrisse seiner Gestalt auf den Pflastersteinen. Er bewegte sich nicht.
Als der Notarzt eintraf, lebt er noch. Im Krankenhaus wurde er mehrfach operiert und anschließend in ein künstliches Koma versetzt. Die Ärzte sagten, dass sein Rückgrat gebrochen sei und er nie wieder würde laufen können. Sie sagten auch, dass er starke Hirnblutungen gehabt hätte und nicht klar sei, welche Schäden davon zurückbleiben würden.

Er sitzt im Rollstuhl, sein Blick irrt durch den Raum. Es liegt kein Erkennen darin. Wie in all den Jahren zuvor hat sie die Blautanne gekauft, aufgestellt und geschmückt. Die Christbaumkugeln sind matt und weiß. Wie Schnee. Nichts spiegelt sich in ihnen.
Vorsichtig schneidet sie mit dem Messer ein kleines Stück Braten ab und steckt es in seinen Mund. Mechanisch kaut er darauf herum. Dann ein Stück Kloß, etwas Rotkohl. Anschließend gibt sie ihm einen Schluck Wasser aus der Schnabeltasse. Er trinkt, grinst, lallt irgendetwas. Seine Hände zittern. Sie küsst ihn auf die Stirn, lächelt.

In guten wie in schlechten Tagen.

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