Pawlow und die Reizüberflutung

Bei meinen Recherchen zum Thema Reizoffenheit und Hochsensibilität bin ich auf die Forschungen von Iwan Pawlow gestoßen, einem russischen Mediziner und Physiologen, der 1904 den Nobelpreis für Medizin erhielt. Die meisten kennen ihn vermutlich als den Entdecker der konditionalen Reflexe. Aber er hat sich auch mit der Reaktion des Menschen auf Reizüberlastung und Überstimulation beschäftigt. Bei seinen Versuchen zu diesem Thema traktierte er seine Probanden konstant mit Geräuschen, deren Lautstärke er stetig hochregelte. Dabei identifizierte Pawlow zwei Zustände, die ein Mensch zwischen normaler Verarbeitung von Informationen und dem vollkommenen Zusammenbruch – der transmarginalen Hemmung – durchläuft. Den ersten nannte er paradoxe Phase. Paradox deshalb, weil der Mensch in ihr auf starke Reize kaum, aber auf schwache Reize stark reagiert. Ein Beispiel: Bei einem Autounfall regen wir uns darüber auf, dass der Bügel unserer Brille verbogen ist, weil wir mit dem Kopf gegen die Seitenscheibe geknallt sind, aber nehmen kaum wahr, dass unser Fahrzeug komplett im Eimer ist. Dieses Verhalten macht in Krisensituationen durchaus Sinn, weil es uns ermöglicht, lebensrettende Details zu erkennen, die ansonsten von den starken Reizen überdeckt werden würden.
Nimmt die Reizbelastung weiter zu, so kommt es laut Pawlow zur ultraparadoxen Phase. Hier werden angenehme Reize als unangenehm und unangenehme Reize als angenehm empfunden. Klingt verrückt, aber wenn man genauer hinschaut und im Alltag forscht, ist diese Phase gar nicht so selten anzutreffen. Ein Beispiel: Ein kleines Kind besucht mit seinen Eltern eine Familienfeier; es ist bunt, es ist laut, es ist warm. Anfangs spielt es mit den anderen Kinder noch ganz normal. Irgendwann wird es müde und quengelig (paradoxe Phase). Reagieren die Eltern nicht und lassen das Kind in dem überreizenden Umfeld, so wird es sich bald in einem Zustand völliger Überdrehtheit befinden. Je lauter die Musik, je wilder die Spiele, je greller das Licht, desto besser (ultraparadoxe Phase). Sollten die Eltern jetzt auf die Idee kommen, mit dem Kind nach Hause gehen zu wollen, müssen sie es mit Gewalt von der Feier entfernen. Falls sie das nicht tun, sondern es gewähren lassen, werden sie es irgendwann komatös schlafend in irgendeiner Ecke finden (transmarginale Hemmung). Das also, was eine Person in einer akuten Überreizungssituation eigentlich benötigt – Ruhe, Erholung etc. – wird von ihr abgelehnt, während die Überstimulation sogar als angenehm – bzw. als erforderlich – empfunden wird. Aus evolutionärer Sicht ist dies durchaus sinnvoll, weil es einem Menschen in einer andauernden Krisensituation das Durchhalten ermöglicht, indem er einen eisernen Willen entwickelt und der Körper ungeheure Kräfte freisetzt. Klar ist allerdings auch, dass diese Phase eine Person extrem auszehren kann und, wenn die Reißleine nicht rechtzeitig gezogen wird, es unweigerlich zum Zusammenbruch kommt.

Reizoffene Personen – dazu gehören für mich Hochsensible und Menschen aus dem ADHS- und Autismus-Spektrum – geraten im Vergleich zu neurotypischen schneller sowohl in die paradoxe als auch die ultraparadoxe Phase, weil sie durch ihre empfindlichere Physiologie deutlich mehr Reize aufnehmen als der Durchschnitt. Für viele dieser Menschen reicht die Stimulation durch die alltägliche Lebensbewältigung bereits aus, um in die paradoxe Phase zu rutschen. Sie fokussieren sich dann auf Details, um sich an ihnen festzuhalten, können Zusammenhänge kaum noch erkennen, sind gereizt und/oder verstört. Sich zu konzentrieren fällt ihnen schwer, Kommunikation ist eine Herausforderung. Gleichwohl müssen sie funktionieren, müssen in die Schule gehen oder ihre Arbeit bewältigen, sich um die Kinder kümmern und alltägliche Dinge wie Behördengänge erledigen. Selbst wenn sie bemerken, dass ihnen alles zu viel wird, können sie sich häufig der Situation nicht entziehen, weil sie bspw. gerade mitten im Unterricht oder einer Zahnarztbehandlung stecken, und rutschen unbemerkt in die ultraparadoxe Phase, in der sie einfach immer weiter machen. Der vielleicht vormals vorhandene Wusch, sich der Situation zu entziehen, ist verschwunden, es entwickelt sich ein Tunnelblick, weder Schmerzen noch Müdigkeit werden jetzt noch wahrgenommen. Aus diesem Zustand können Betroffene häufig nur durch eine Systemabschaltung entkommen. Je größer die Reizoffenheit und je weniger geschult im Umgang mit ihr eine Person ist, desto schneller kommt es zum Abrutschen in die ultraparadoxe Phase und, wenn die Situation nicht verlassen wird oder werden kann, zum Totalausfall. ADHSler sind für ihre Wutausbrüche berühmt-berüchtigt, Autisten nennen ihre Ausraster gerne Meltdowns. Manche verfallen auch in eine Art Starre, Shutdown genannt. Die Ursache ist die immer gleiche: das permanente Reiztrommelfeuer, das unweigerlich zu einer Überlastung, auch Overload genannt, führt. Manchen dieser reizoffenen Menschen gelingt es im Laufe der Zeit, die Anzeichen zu deuten und sich rechtzeitig zurückzuziehen, sich also den Beharrungskräften der ultraparadoxen Phase zu entziehen, um damit einem Meltdown zu entgehen. Aber gerade Kinder – und auch noch viele Erwachsene – haben damit große Probleme.

Auf der anderen Seite kann die ultraparadoxen Phase, wenn sie durch angenehme und erwünschte Stimuli ausgelöst wird, dafür sorgen, dass sich reizoffene Menschen länger und mit deutlich höherer Konzentration auf eine Sache fokussieren. Dann vergessen sie zu essen, zu trinken und manchmal sogar zu schlafen. Es ist nachvollziehbar, dass dieser Zustand, wenn ihm ein großes Interesse an einer Sache zugrunde liegt, zu Höchstleistungen befähigt. Dennoch darf man nicht vergessen, dass als positiv empfundene Stimuli in die Überanstrengung führen können, vor allen Dingen, wenn auf Dauer der entlastende Ausgleich fehlt. Die unter reizoffenen Menschen häufig anzutreffenden Erschöpfungszustände, die von Mediziner:innen und Therapeut:innen gerne als Burnout bezeichnet werden, sind meist hierauf zurückzuführen.

Meiner Meinung nach erklärt Pawlows Phasenmodell sehr gut die verschiedenen und ineinander übergehenden Überreizungszustände bei Hochsensiblen und Menschen im ADHS- und Autismus-Spektrum. Mir hat seine Forschung dabei geholfen, besser zu erkennen, wann ich eine Auszeit benötige. Ich würde mir wünschen, dass dieses Wissen auch anderen reizoffenen Menschen und ihren Angehörigen sowie Lehrer:innen, Ärzt:innen und Therapeut:innen zuteil wird. Das könnte dazu beitragen, dass viele Probleme in der zwischenmenschlichen Interaktion erst gar nicht entstehen und die betroffenen Personen ein für sie passendes Umfeld vorfinden, das ihnen ermöglicht, ihre Fähigkeiten ohne Einschränkungen in die Gesellschaft einzubringen.

Quellen:

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