Einfach durchgeknallt – oder nur hochbegabt?

Schon seit einiger Zeit beschäftigt mich ein interessanter Themenkomplex. Immer wieder lese ich in Büchern oder im Netz darüber, dass es zwischen ADHS, Asperger und Hochbegabung viele Überschneidungen geben soll. Als ich dazu recherchierte, fand ich einige aufschlussreiche Selbstbeschreibungen von Menschen, die Asperger haben und manchmal auch eine Hochbegabung. Oder die von ADHSlern mit und ohne Hochbegabung. Oder die von Aspis, die auch ADHS haben. Und natürlich die von nur Hochbegabten. Was mir dabei aufgefallen ist: Sowohl Aspis als auch ADHSler und Hochbegabte scheinen anders zu denken. Nämlich nicht sequenziell, wie die meisten Menschen, sondern divergent. Man stelle sich ein riesiges Gemälde vor, auf dem es nur so von unterschiedlichen Dingen wimmelt. Aus diesem Chaos unzusammenhängender Informationen saugen sich Aspis/ADHSler/Hochbegabte die heraus, mit deren Hilfe sie ein spezielles Problem lösen, eine ungewöhnliche Idee spinnen oder eine andersartige Sichtweise auf die Welt, ein Thema, einen Menschen entwickeln können. Dieses Vorgang geschieht natürlich unbewusst und ist nur bedingt steuerbar. Voraussetzung für diese Art des Denkens ist, dass genügend Informationen vorhanden sind. Bei einem Bild mit nur zehn Gegenständen ist divergentes Denken nicht notwendig, sondern bisweilen sogar hinderlich.

Hier kommt nun der zweite Aspekt ins Spiel, von dem ich immer wieder während meiner Recherchen gelesen habe: die Reizoffenheit. Sie wird sowohl Aspis als auch ADHSlern und Hochbegabten nachgesagt. Divergentes Denken und Reizoffenheit scheint bei ihnen Hand in Hand zu gehen. Für mich ergibt sich daraus folgender Schluss: Divergentes Denken ist die einzige Möglichkeit, um mit der Vielzahl an Reizen, die auf Aspis/ADHSler/Hochbegabte einprasseln, fertig zu werden. Mit sequenziellem Denken käme hier keiner von ihnen weiter. Ergo ist divergentes Denken die Folge von Reizoffenheit.

Die meisten Fachleute sind sich einig darüber, dass divergentes Denken eine Grundvoraussetzung sowohl für Kreativität als auch für Intelligenz ist. Uneinig sind sie sich allerdings bezüglich der Definition dieser beiden Begriffe. Ich versuche es einmal so: Kreativität ist die Fähigkeit, etwas Neues und Originelles zu erschaffen. Intelligenz ist, ganz allgemein, die Fähigkeit, Probleme zu lösen. Divergentes Denken lässt Menschen also besonders kreativ und/oder intelligent sein. Also müssten nicht nur Hochbegabte, sondern auch Aspis und ADHSler besonders kreativ und/oder intelligent sein. Aber sind sie das auch?

Ich kehre an diesem Punkt noch einmal zur Reizoffenheit zurück. Die meisten Menschen besitzen für alle Sinne gut ausgeprägte Filtersysteme, die hereinkommende Außenreize sortieren und nur Wichtiges durchlassen. Auf der anderen Seite gibt es Menschen, deren Filtersysteme von Geburt an völlig unzureichend sind und die von Reizen nur so überflutet werden. Zwischen diesen beiden Polen existieren diverse Varianten. Beispielsweise kann nur das Filtersystems eines Sinns betroffen sein. Oder die Filtersysteme aller Sinne, allerdings in geringem Ausmaß.

Sowohl Aspis als auch ADHSler berichten immer wieder über den gefürchteten Overload. Damit bezeichnen sie den Punkt, an dem die Reizüberflutung zu hoch wird und sie sich, je nach Situation oder charakterlichen Gegebenheiten zurückziehen oder total ausrasten. Nun stelle ich mir folgende Frage: Was wird ein Neugeborenes tun, dass für alle Sinne nur sehr schwache oder gar keine Filtersysteme besitzt? Es wird sich vermutlich zunächst die Seele aus dem Leib schreien. Da sich an seiner Situation aber nichts grundlegendes ändert, wird es sich sehr bald in eine innere Welt zurückziehen, um sich selbst zu schützen. Es verliert die Verbindung zu anderen Menschen, sein soziales Lernen bleibt auf der Strecke, es wird nie sprechen lernen, sich nie normal entwickeln und immer anders sein. Ärzte diagnostizieren in einem solchen Fall frühkindlichen Autismus.
Anders sieht es aus, wenn ein Säugling mit einer nur leichten Reizfilterschwäche auf die Welt kommt. So ein Kind sieht mehr, riecht mehr, schmeckt mehr, fühlt mehr und hört mehr als seine Altersgenossen, ist aber in der Regel von den auf es einströmenden Informationen noch nicht überfordert, ganz im Gegenteil. Sein Gehirn bildet schneller neue Verknüpfungen, es entwickelt einen divergenten Denkstil und wächst zu einem intelligenten und kreativen Menschen heran.
Nun stelle ich mir ein Kind vor, dessen Filtersysteme schwächer ausgeprägt sind. Es ist mal mehr, mal weniger von seiner Situation überfordert. Sein Gehirn bildet zwar auch schneller neue Verknüpfungen und es entwickelt ebenfalls einen divergenten Denkstil, doch die stetige Überforderung macht ihm zu schaffen, es zieht sich häufig zurück oder rastet aus, kann sich nicht konzentrieren, wenn es müsste und bekommt vieles nicht so geregelt, wie es möchte, weil das Chaos in seinem Kopf einfach zu groß ist. ADHSler können ein Lied davon singen. Wenn dann auch noch einzelne Sinne von der Filterschwäche stärker betroffen sind als andere, überfordert dies das Kind noch mehr. Je nach dem, welche Sinne betroffen sind, kann es zu Totalausfällen in bestimmten Bereichen kommen. Dann findet beispielsweise kein soziales Lernen statt, während auf einem anderen Gebiet möglicherweise Höchstleistungen erbracht werden, wie es bei Aspis manchmal der Fall ist, oder, ganz ausgeprägt, bei Savants. Hinzukommt natürlich bei all diesen Kindern noch ihr persönliches Charakterprofil, das die Situation entweder entschärfen oder verschlechtern kann.

Soweit meine Überlegungen. Ob etwas an dieser Theorie dran ist, muss die Zukunft zeigen. Es gibt einige bemerkenswerte wissenschaftliche Ansätze, die in die oben beschriebene Richtung weisen.

Warum mich das Ganze so interessiert? Ich habe selbst ADHS und erreiche in den üblichen Asperger-Selbsttests hohe Punktzahlen. Ich besitze einen divergenten Denkstil, liebe Logikrätsel, habe hin und wieder kreative Höhenflüge und gehe anderen Leuten manchmal mit meinem Klugscheißertum auf die Nerven. Mittlerweile bin ich im sozialen Umgang sehr vorsichtig geworden. Niemand schätzt es, von jemanden mit der Nase auf seine Fehler gestoßen zu werden, egal, wie recht der andere hat.

Ich bin anders und durchgeknallt. Und das ist auch gut so.

 

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