Das Paillettenkleid

Die Absätze ihrer Pumps knallten auf das Pflaster, tack, tack, tack. Warteschleifenmusik. Die zwei Hosenanzüge und das Kostüm für die Reinigung zogen mit ihrem Gewicht unangenehm an den Riemen der Tasche, ihre Finger begannen zu rebellieren. Sie beschleunigte ihre Schritte. Am Ende der Einkaufspassage, trist und verloren und menschenleer, sah sie bereits die Leuchtreklame der Reinigung. Sie passierte den Dritte-Welt-Shop, den Zeitungskiosk, dann erreichte sie den Second-Hand-Laden mit seinem ewigen Sammelsurium aus alter Eleganz und modernem Eskapismus. Sie wollte sich bereits dem Eingang der Wäscherei zuwenden, blieb aber dann zögernd stehen. In der Auslage des Second-Hand-Ladens stand eine armlose Schaufensterpuppe, auf ihrem zerschrammten Körper war ein Abendkleid aus silbrigen Pailletten drapiert. Es schien, als wäre es direkt vom Hollywood-Boulevard in die trostlose Einkaufspassage verbannt worden. Sie stutzte. Dieses Kleid. Sah es nicht beinahe so aus wie jenes, das Marylin Monroe getragen hatte, damals, beim Geburtstagsständchen für den Präsidenten?

Sie ging näher an die Scheibe. Die winzigen Pailletten des Kleides strahlten mit der Schaufensterbeleuchtung um die Wette. Wie viele von den Plättchen waren das wohl? Tausend? Zweitausend? Sie fragte sich, wie dieser Traum von Kleid sich auf ihrer Haut anfühlen würde. Sie seufzte. Natürlich war sie nicht Marylin. Sie war etwas größer als sie, knochiger, und der Busen, nun ja, nicht so sexy. Aber sie war blond, wenn auch nicht so blond. Anders als Marylin aber von Natur aus. Immerhin.

Ihr Blick klebte an dem Kleid. Sie vergaß ihre tauben Finger, das Ziehen im Arm, die schmerzende Schulter. Vom Schnitt her könnte es ihr passen, von der Größe ebenfalls. Der Preis auf dem Zettel, der mit einer Nadel an den Stoff geheftet war, ließ sie schwindeln. Als kleine Bankangestellte konnte sie sich einen solchen Luxus nicht leisten. Eigentlich. Aber anprobieren konnte sie das Kleid trotzdem.

Einmal Marylin sein.

Einmal ein Star sein.

Einmal die Frau aller Frauen sein.

Sie betrat den Laden. Eine alte Dame, die aussah, als wäre jeder im Verkaufsraum vorhandene Stil in ihrer Person vereint, holte auf ihren Wunsch hin das Kleid aus dem Schaufenster und überreichte es ihr mit einem wissenden Lächeln.

In der rumpeligen Umkleidekabine schälte sie sich aus ihren Winterklamotten. Die stickige Luft roch nach Staub und kitzelte ihre Nase. Andächtig stieg sie in das Kleid und zog den zarten Stoff um sich zusammen. Der seitliche Reißverschluss war ein wenig schwergängig.

Sie betrachtete sich im Spiegel. Das Deckenlicht ließ die Pailletten leuchten, der Schnitt war sowohl elegant als auch sexy, ihr Körper füllte das Kleid fast perfekt aus. Der Busen hätte zwar etwas größer sein dürfen, aber mit einem entsprechenden BH würde sich das leicht beheben lassen. Sie drehte und wendete sich, links herum, rechts herum, immer wieder. Was sie sah, war nicht Marylin. Es war besser. Es war sie selbst. Eine schöne Frau. Das eckige Kinn, die große Nase, der sichtbare Adamsapfel – all das störte sie auf einmal nicht mehr, ganz im Gegenteil. Der Kontrast von kantiger Gestalt und weich fließendem Paillettenstoff ergab eine eindrucksvolle Mischung. Hingerissen küsste sie ihr Spiegelbild. Noch niemals in ihrem Leben hatte sie sich so perfekt gefühlt.  

Wie sie das mit dem Geld machen sollte, wusste sie noch nicht. Am Monatsende blieb kaum etwas auf ihrem Konto übrig, die Hormone verschlangen große Summen. Dann fiel ihr ein, dass bald Weihnachten war und sie stets eine kleine Gratifikation von ihrem Arbeitgeber erhielt. Die würde zwar auch nicht reichen, aber wenn sie die nächsten Monate eisern sparte, konnte sie es schaffen, den Betrag zusammenzubekommen.

Als die Verkäuferin es ablehnte, das Kleid für sie zurückzulegen, hätte sie fast losgeheult. »Aber es ist doch nur bis höchstens März«, flehte sie.

Die alte Dame schüttelte den Kopf. »Bis dahin habe ich das Kleid längst verkauft«, meinte sie und zog eine Schnute.

»Und ein Preisnachlass ist nicht drin?«, versuchte sie es ein letztes Mal.

»Nö.« Die alte Dame blieb hart.

Ein Kloß steckte in ihrem Hals fest, ihre Augen brannten. Mühsam beherrschte sie sich und verließ den Laden. Draußen brauchte sie ein paar Sekunden, bevor sie sich gesammelt hatte und den Eingang der Reinigung direkt gegenüber ansteuern konnte.

Die Tür klemmte leicht, wie immer. Das hohe Quietschen beim Öffnen lag nur knapp unterhalb der Schmerzgrenze ihrer Ohren. Eine Kundin befand sich bereits im Laden, sie sah aus, als sei sie direkt dem Prospekt einer teuer sanierten Altbauwohnung entsprungen. Noch ganz damit beschäftigt, ihrem Paillettenkleid hinterherzutrauern, bemerkte sie die Gefahr erst, als die Frau sich zu ihr umdrehte, um den Laden zu verlassen.

»So ein Zufall!«, quakte ihre Schwägerin, ein boshaftes Lächeln huschte über ihr Gesicht. In einer Lautstärke, dass selbst das Personal im hinteren Arbeitsbereich sie hören konnte, trompetete sie: »Schön dich zu sehen, Christian. – Oh, entschuldige. Natürlich wollte ich Kristin sagen. Ich kann mich einfach nicht an deinen neuen Namen gewöhnen. Und an das andere Geschlecht. Na ja, nichts für ungut. Irgendwann lerne ich das sicher noch. Wir sehen uns Weihnachten!« Dann rauschte die Frau aus dem Laden, eine penetrante Duftwolke zurücklassend.

Wie angenagelt blieb sie mitten im Raum stehen. Durch Tränenschlieren sah sie die Ständer mit der sauberen Kleidung, in Plastikfolie gehüllt, den Tresen mit dem Adventskranz darauf, den Besitzer dahinter, wie immer in knitterfreiem Hemd, geschmackvoller Weste und farblich passender Fliege. Sie schluckte, blinzelte. Zweimal, dreimal. Dann ging sie weiter und wuchtete die Tasche mit ihren Sachen auf die Theke. Ihr Blick ging ins Nirgendwo.

Der Besitzer der Reinigung nahm schweigend ihre Kleidung entgegen, befestigte durchlaufende Nummern an ihnen und schob ihr die Abholzettelchen hin. »Wenn diese Kundin das nächste Mal kommt«, sagte er unvermittelt, »werde ich ihr nahelegen, sich eine andere Reinigung zu suchen.«

Überrascht sah sie ihn an, zum ersten Mal, nicht nur an diesem Tag, sondern überhaupt. Sie bemerkte Dinge, die ihr früher entgangen waren. Die Augen, die hinter der Drahtbrille den Glanz dunkler Schokolade besaßen. Die klaren Züge, das sorgsam gekämmte Haar, den Bart, sauber gestutzt und mit wenigen Silberfäden durchzogen.

»Wenn ich mir eine Bemerkung erlauben darf«, fuhr er zögernd fort. »Das Paillettenkleid würde Ihnen hervorragend stehen. Es ist wie für sie gemacht.« Er lächelte, die Schokolade begann zu schmelzen.

»Oh, ich kann es mir nicht leisten«, antwortete sie hastig und war erstaunt darüber, dass er sie offenbar beobachtet hatte. Gerührt musste sie nun ebenfalls lächeln, obwohl sie noch immer ein wenig traurig darüber war, dass sie das Marylin-Kleid nie tragen würde.

»Das ist schade«, entgegnete er bedauernd. »Vielleicht ergibt sich ja doch noch eine Möglichkeit.«

Die Schokolade war nun definitiv geschmolzen und wärmte ihr Herz. In all den Jahren, die sie schon hierherkam, hatte sie über das Nötigste hinaus mit diesem Mann nie ein Wort geredet. Sie schämte sich ein bisschen, wusste aber nicht, was sie sagen sollte und ließ es bleiben. So war es immer bei ihr. Warum nur fiel es ihr so schwer, auf andere Menschen zuzugehen? Manchmal kam sie sich vor wie ein Stummfilm. Sie seufzte, verabschiedete sich und verließ die Wäscherei.

In der Woche vor Weihnachten war sie erneut unterwegs zur Reinigung, um ihre Sachen abzuholen. Mit Bedauern stellte sie fest, dass ihr Marylin-Kleid aus dem Schaufenster des Second-Hand-Ladens verschwunden war. »Verkauft«, sagte die alte Dame, als sie nachfragte. Niedergeschlagen betrat sie die Wäscherei, selbst das freundliche Lächeln des Besitzers konnte sie dieses Mal nicht aufheitern. Sie zahlte, wünschte dem Mann frohe Festtage, ohne ihn auf einen Kaffee einzuladen, wie sie es sich eigentlich vorgenommen hatte, und verließ wütend auf sich selbst den Laden.

Zu Hause angekommen nahm sie die sorgsam gefaltete Kleidung aus der Tüte. Dabei fiel ihr ein in dezentes Weihnachtspapier eingewickeltes Paket in die Hände. Es war eher klein, nicht besonders schwer und unbeschriftet. Sie hielt es für ein Geschenk der Wäscherei, dass alle Stammkunden bekamen, die vor Weihnachten das Geschäft besuchten, und legte es zur Seite. Erst am nächsten Tag, dem Heiligen Abend, erinnerte sie sich wieder daran und platzierte es unter ihren Miniweihnachtsbaum neben die zwei anderen Geschenke. Weil sie deren Inhalt bereits kannte, nahm sie sich beim Auspacken zuerst das Präsent der Wäscherei vor. »Frohe Weihnachten, Kristin«, sagte sie ironisch zu sich selbst und riss das Papier auf. Im Schein der Lichterkette glitzerten Pailletten. Sie hielt den Atem an. Vorsichtig entfernte sie die Verpackung. Sie konnte es kaum glauben, aber es war tatsächlich ihr Kleid. Mit tränenfeuchten Augen presste sie es an ihren Körper, der Weihnachtsbaum hatte gegen das Glitzern der Pailletten keine Chance. Lachend tanzte sie durch das Wohnzimmer. Als sie sich schließlich vor dem Spiegel im Flur aufstellte, sah sie, dass am Saum des Kleides mit einer Sicherheitsnadel eine kleine Klappkarte befestigt war. Sie öffnete sie, las. Dann griff sie zum Telefon.

Liebe Kristin,

ich muss Ihnen etwas gestehen: Für mich sind Sie die schönste Frau auf der Welt, weder Marylin Monroe noch Greta Garbo können mit Ihnen mithalten. Ich wollte Sie schon lange ansprechen, habe mich aber nie getraut. In so etwas war ich noch nie gut. Aber dann ergab sich diese Gelegenheit mit dem Kleid und nun wage ich es: Darf ich Sie die Tage zum Essen einladen? Rufen Sie mich an.

Ihr Bewunderer Kurt Brenkendorf

One thought on “Das Paillettenkleid

  1. Eine wunderbare Geschichte voller Gedankenbilder und Überraschungen – das zaubert eine frohe Weihnachtsstimmung beim Lesen. Glückwunsch dafür!

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