Die kaputte Heizung

Er hatte gerade seinen letzten Auftrag erledigt, als der Anruf von der Zentrale kam. Es war Heiligabend und seine Schicht seit zehn Minuten zu Ende. Einen Augenblick lang blinzelte er durch die schmierige Windschutzscheibe hinaus ins kalte Licht der frühen Dämmerung. Dann legte er die Auftragspapiere auf den Beifahrersitz und griff nach dem Smartphone.
»In der Moltkestraße ist die Heizung ausgefallen. Ein Notfall. Kannst du dich darum kümmern?« Natürlich konnte er das. Er konnte es immer. An Weihnachten, Sylvester oder in den Sommerferien. Er habe ja keine Kinder, meinte sein Chef. Er solle doch an die Kollegen mit Familie denken. Blablabla.
Er sagte zu. Eine Stunde früher oder später nach Hause zu kommen, würde jetzt auch nichts mehr ändern.
Er startete den Firmenwagen. Der alte Sprinter hoppelte bockig die Straße entlang. Erst nach ein paar hundert Metern ließ das Gezicke nach und die Fahrt wurde ruhiger. Bald darauf hatte er die Moltkestraße erreicht. Als er das Lenkrad einschlug, um abzubiegen, wurde ihm plötzlich schwindlig. Er blinzelte, schüttelte den Kopf und das seltsame Gefühl verschwand so schnell, wie es gekommen war. Etwas verwirrt suchte er nach einem Parkplatz vor Hausnummer 43. Hinter einem uralten VW und einem wenig jüngeren Audi klemmte er sich in eine schmale Lücke.
Das Haus mit der Nummer 43 lag etwas nach hinten versetzt in einem Garten, der vermutlich nur deswegen riesig wirkte, weil das Gebäude so winzig war. Er wuchtete seinen mächtigen Körper aus dem Wagen, schlurfte zum Haus und klingelte. Feuchte Kälte zwickte ihn in den Nacken, ein Frösteln wanderte seinen Rücken hinab. Eine Frau öffnete die Tür, sie war vielleicht fünfzehn Jahre älter als er und in einen altmodischen Wintermantel gewickelt. Sie begrüßte ihn mit einem strahlenden Lächeln und winkte ihn ins Haus. »Mein Retter!«, rief sie und zwinkerte ihm zu. Er vergaß die Kälte.
Über eine knarrende Holztreppe führte sie ihn in den Keller zu einer uralten Gasheizung. »Sie brauchen ʼne neue«, sagte er und deutete auf das Fossil.
»Ich weiß. Ist für nächstes Jahr geplant. Nur nützt mir das jetzt wenig. Können Sie das Ding reparieren?« Ihre Nasenspitze leuchtete rot vor Kälte.
»Ich tue mein Bestes. Wird schon klappen«, sagte er und nickte in ihre Richtung.
»Möchten Sie einen Kaffee?«, erkundigte sie sich. Er bejahte. Nachdem sie gegangen war, begann er mit der Fehlersuch. Als sie kurz darauf wieder vor ihm stand, eingehüllt in den Dampf des heißen Getränks, hatte er das Problem bereits gefunden.
»Die Pumpe hat den Geist aufgegeben. Ich werdʼ Ihnen ʼne neue einbauen müssen. Zum Glück habʼ ich noch eine im Wagen, die kompatibel zu der alten Kiste ist. Wird aber ʼne Weile dauern.«
»Ach, da bin ich aber froh«, seufzte sie erleichtert. »Weihnachten im Kalten zu verbringen, ist nicht das, was ich mir für die Feiertage vorgenommen habe!« Ihr Lächeln erinnerte ihn an das seiner Mutter, als sie noch glücklich gewesen war und er ein kleines Kind.
Nach anderthalb Stunden Frickelei gelang es ihm, die Heizung wieder ans Laufen zu bringen. Er packte sein Werkzeug zusammen und füllte den Auftragsbogen aus. Dann stapfte er schwerfällig die knarrende Holztreppe nach oben.
»Es wird schon warm!«, rief sie und stürmte mit ihrem strahlenden Lächeln auf ihn zu. Er schluckte, hielt ihr den Auftragsbogen zur Unterschrift hin. Ihre dunklen Augen fixierten ich, dann nahm sie den angebotenen Kugelschreiber in die Hand. »Sie wollen bestimmt schnell nach Hause, wo Ihre Liebsten auf sie warten, nicht wahr?« Er schwieg, sein Blick suchte auf dem Fußboden nach Halt, fand aber keinen. Sie kritzelte an der vorgesehenen Stelle eine Unterschrift auf das Papier. »Niemand wartet auf Sie, so ist es doch, oder?« Er zuckte die Schultern. »Auf mich wartet auch niemand. Aber ich habe einen riesigen Topf Wildgoulasch. Und Klöße und Rotkraut. Möchten Sie vielleicht mit mir zusammen essen?« Sprachlos starrte er sie an. »Es wäre mir eine große Freude«, sagte sie ernst. Er nickte und fragte sich, warum sie ihm so vertraut vorkam.
Den angebotenen Rotwein lehnte er ab, weil er noch fahren musste, sie stellte ihm Mineralwasser hin. Das Goulasch war Extraklasse. Er aß mit Genuss. Nicht nur sein Magen wurde warm.
»Sie sehen traurig aus«, sagte sie unvermittelt, nachdem sie eine Weile schweigend gegessen hatten. »Ich kenne diese Traurigkeit. Sie kam, als mein Mann starb. Er hatte einen Herzfehler, von dem niemand wusste. Von einen auf den anderen Tag war er weg. Danach hatte ich nur noch Dunkelheit in mir.«
Wieder starrte er sie an. Er wusste nicht, welches die richtigen Worte waren, um auszudrücken, was er fühlte. »Annika. Meine Frau. Sie starb bei einem Unfall. Vor einem Jahr.«
Sie nickte. »Sie kommen nicht darüber hinweg.« Es war eine Feststellung, keine Frage. »So ging es mir auch. Aber glauben Sie mir: Es gibt immer etwas, für das es sich zu Leben lohnt. Man muss nur danach suchen. Der Tod ist kein Fehler, den man bedauern und wieder gutmachen kann, er ist endgültig. Wenn man tot ist, gibt es kein Zurück mehr.«
Er stierte auf seinen leergegessenen Teller, ein Knoten in seinem Hals drohte ihn zu ersticken. Er würgte, rang nach Atem, sein Herz wummerte. Ein Schluchzen durchtrennte schließlich das Knäul in seiner Luftröhre. Er begann, hemmungslos zu weinen. Sie hielt ihn fest, wiegte ihn wie ein kleines Kind, trocknete sein Gesicht mit einem Taschentuch. Er nahm es nicht wahr.
Als er sich beruhigt hatte, wurde ihm bewusst, dass die Dunkelheit in seinem Kopf verschwunden war. Aus verquollenen Augen sah er sie an, ihr Lächeln war nicht mehr strahlend, sondern weich wie Wollflaum. »Frohe Weihnachten!«, sagte sie.
»Frohe Weihnachten!«

Zu Hause löste er alle Schlaftabletten aus ihren Blisterverpackungen und spülte sie die Toilette hinunter. Dann zerriss er den Abschiedsbrief und ging zu Bett.
Am nächsten Morgen grub er noch vor dem Frühstück eine der Christrosen aus, die er schon vor Jahren gemeinsam mit Annika in die Balkonkästen gepflanzt hatte. Sie blühte bereits in schneeigem Winterweiß. Interessiert beobachteten ihn seine beiden Katzen dabei, wie er das Gewächs anschließend in einen alten Blumentopf pflanzte und den fleckigen Ton hinter einer Manschette aus weihnachtlichem Geschenkpapier verbarg.
Am Nachmittag lud er das Präsent für seine Mutter und die Christrose in seinen kleinen Fiesta. Es war ein klarer und klirrend-kalter Wintertag, es dauerte eine Weile, bis der Innenraum des Wagens warm wurde. Als er den Blinker setzte und in die Moltkestraße abbog, erschien ihm die Siedlung seltsam verändert. Wo gestern noch alte Autos gestanden hatten, parkten jetzt moderne SUV und schnittige Kleinwagen. Bei Nummer 43 angelangt machte er eine Vollbremsung. Das kleine Häuschen war nicht mehr da! An seiner Stelle stand nun ein mehrstöckiges Gebäude. Völlig verwirrt wanderte sein Blick die glatten Mauern entlang. Schließlich holte er sein Smartphone aus der Jackentasche und googelte. Vielleicht war er ja falsch gefahren. Doch es existierte nur eine einzige Moltkestraße in seiner Stadt. Und in der befand er sich, genau auf Höhe der Hausnummer 43.
Lautes Hupen schreckte ihn auf. Hastig löste er die Bremse und fuhr weiter. Während er den Wagen wie in Trance steuerte, drehten seine Gedanken unablässig Kreise, ohne an einen schlüssigen Endpunkt zu gelangen.
Seine Mutter umarmte ihn zur Begrüßung, wie immer gelang es ihr nicht, seinen Körper zu umfassen. »Du siehst gut aus«, konstatierte sie zufrieden. Gedankenverloren überreichte er ihr sein Geschenk, beobachtete, wie sie es auspackte, registrierte, wie sie sich über sein gerahmtes Portrait freute. Als sie zum Klavier ging, folgte er ihr. »Ich werde es hier hinhängen.« Sie hielt das Bild neben die vielen anderen Fotografien, die sich bereits über dem Instrument tummelten. Bei der Mehrzahl handelte es sich um Portraits von irgendwelchen nahen, fernen oder sehr fernen Verwandten. Die meisten davon kannte er nicht.
Er wollte sich gerade abwenden, als er sie sah. Die dunklen Augen blickten ihn direkt an, das feine Lächeln schien nur ihm zu gelten. Irgendetwas in seiner Brust begann zu glühen. »Wer ist das?«, fragte er, seine Stimme kam ihm fremd vor.
»Das? Ach Liebelein, das ist doch deine Großmutter! Habe ich dir das nie gesagt? Naja, kann sein, dass ich es vergessen habe. Sie ist schließlich schon eine Weile vor deiner Geburt gestorben.« Seine Mutter seufzte.
Er blinzelte. »Woran ist sie gestorben?«
»Ach, das ist eine so trübselige Geschichte. Lass uns an Weihnachten nicht darüber reden«, wich seine Mutter aus.
»Ich will es aber wissen«, insistierte er. In seinem Kopf drehten sich die Gedanken immer schneller.
»Sie war krank«, sagte seine Mutter, ihre Stimme klang schrill. In ihrem Gesicht bemerkte er eine Qual, die er nie zuvor dort gesehen hatte. »Sie war sehr, sehr krank. Sie hatte diese große Traurigkeit in sich. Nach dem Tod deines Großvaters wollte sie nicht mehr leben. Sie nahm Schlaftabletten. Ich fand sie am Morgen. Damals war ich gerade achtzehn Jahre alt. Sie ist einfach gegangen und hat mich im Stich gelassen.«
Das Glühen in seiner Brust wärmte mittlerweile seinen ganzen Körper. »Darf ich das Bild haben?«, fragte er seine Mutter. Sie sah ihn irritiert von der Seite an.
»Warum?«
»Es erinnert mich an jemanden.«
»Von mir aus. Ich habe noch ein anderes Foto von ihr.«

Am Abend, als er durch die sternenklare Nacht nach Hause fuhr, die Christrose auf dem Beifahrersitz, lächelte er. Draußen mochte es dunkel sein und bitterkalt, aber in ihm drin war es licht und hell und wunderbar warm.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert