Hochsensibel, ADHS oder doch Autismus?

Seit einiger Zeit treibt mich folgende Frage um: Was hat das Konstrukt Hochsensibilität mit der viel zitierten Reizoffenheit von Menschen aus dem ADHS- und Autismus-Spektrum zu tun? Gibt es Unterschiede, gibt es Gemeinsamkeiten? Und was bedeutet der Begriff Hochsensibilität eigentlich?

1996 erschien das Buch The Highly Sensitive Person: How to Thrive When the World Overwhelms You (Sind Sie hochsensibel? Wie sie ihre Empfindsamkeit erkennen, verstehen und nutzen) von der Psychologin Elaine Aron, das heute als Standardwerk auf dem Gebiet der Hochsensibilität gilt. Die Forschungen zum Thema begann sie bereits 1995 gemeinsam mit ihrem ebenfalls als Psychologe arbeitenden Mann Arthur Aron. In ihren Untersuchungen beobachtete das Ehepaar, dass 15-20 Prozent der Individuen einer Population empfindlicher auf Reize reagieren als dessen übrige Mitglieder. Die Arons schlussfolgerten, dass eine detailliertere Wahrnehmung und eine intensivere Verarbeitung von inneren und äußeren Reizen der Grund dafür sein musste. Außerdem schienen diese Menschen eine stärkere Erregbarkeit zu besitzen, was in reizintensiven Situationen leicht zu einer Überlastung führen konnte. Die Arons interpretierten die erwähnten Eigenschaften als Temperamentsmerkmal, das sie sensory-processing sensitivity (Hochsensibilität) nannten. Bei Personen mit diesem Merkmal sprachen sie von highly sensitive persons (hochsensible Menschen). Hochsensibilität ist in ihren Augen weder eine Krankheit noch eine Störung, sondern eine angeborene Variation des neuronalen Systems, unabhängig von Geschlecht, Ethnie und Kultur und bei allen höheren Tierarten zu finden. Dessen ungeachtet kam das Ehepaar in weiteren Studien zu dem Schluss, dass Hochsensibilität eine gewisse Vulnerabilität mit sich bringt, die bei negativen äußeren Einflüssen die Wahrscheinlichkeit für psychische Störungen erhöhen kann. Verfügen Hochsensible allerdings über genügend Rückzugsmöglichkeiten, um die Vielzahl ankommender Reize zu verarbeiten und werden sie in ihrem Wesen bedingungslos akzeptiert, so kann ihre feinere Wahrnehmung eine Stärke sein, die ein reiches Innenleben, Kreativität und Empathie begünstigt.
Laut dem Ehepaar Aron ist die Mehrzahl der hochsensiblen Personen introvertiert, nämlich ca. 70 Prozent; sie sind gedanklich offen für Neues, benötigen aber ausreichende Rückzugsmöglichkeiten zur Reflektion und können sich am besten entspannen, wenn sie mit sich alleine sind. Die restlichen 30 Prozent gelten als eher extrovertiert. Sie sind ständig auf der Suche nach Neuem, schnell gelangweilt und brauchen zum Abschalten andere Menschen um sich herum, was laut den Arons daran liegt, dass sie in einem als positiv und stützend empfundenen Umfeld von Extrovertierten aufgewachsen sind. Ihr Wohlfühlbereich ist sehr eng, sie schwanken ständig zwischen Über- und Unterforderung. Das Ehepaar nannte diese Personen Sensation Seeker.
Innerhalb der Gruppe der Hochsensiblen fanden die Arons in ihren Untersuchungen die verschiedensten Abstufungen – die hohe Empfindsamkeit ist also nicht bei allen Betroffenen gleich stark ausgeprägt und betrifft selten alle Sinne auf einmal. Dennoch geht das Ehepaar davon aus, dass Hochsensibilität als Persönlichkeitsmerkmal in der Bevölkerung nicht normalverteilt vorliegt, sondern es sich bei dieser Personengruppe um einen eigenen Menschenschlag handelt. Gestützt wird diese Sichtweise durch Studien von Jerome Kagan, einem US-amerikanischen Entwicklungspsychologen, der in den 1980er Jahren bei seinen Untersuchungen an Säuglingen feststellte, das ein Teil der Babys anders auf Reize reagierte als der Rest, und durch Studien des Physiologen Iwan Pawlows, der bereits in den 1920er Jahren erforschte, ob Menschen unterschiedlich auf bestimmte Reizbelastungen reagieren. Pawlow beschallte seine Versuchspersonen mit Geräuschen, deren Lautstärke er stetig höher regelte, und beobachtete, ab wann die Probanden in eine Transmarginale Hemmung verfielen, einem Selbstschutzmechanismus zur Verhinderung von physiologischen Schäden durch übermäßige Stressbelastung. Dabei stellte er fest, dass ein Teil der Personen – etwa 15 bis 20 Prozent – diesen Zustand zu einem deutlich früheren Zeitpunkt erreichte als der Rest. Interessanterweise gab es keine Übergänge zwischen den beiden Gruppen, was bei einer Normalverteilung der Eigenschaft eigentlich zu erwarten gewesen wäre. Sowohl Kagan als auch Pawlow gingen davon aus, dass die hochempfindlichen Personen eine andere neuronale Ausstattung besitzen und ihre Reizverarbeitung sich von der des Durchschnitts deutlich unterscheidet.

Aus wissenschaftlicher Sicht ist das Konstrukt der Persönlichkeitseigenschaft Hochsensibilität heftig umstritten. Manche Fachleute lehnen seine Existenz rundheraus ab, andere glauben, dass sich hohe Empfindsamkeit über andere Persönlichkeitseigenschaften erklären lässt, bspw. über Ängstlichkeit oder Neurotizismus. Befürworter des Konstrukts halten diese Sichtweise für zu eng gefasst, da Hochsensibilität nur zu einem geringen Teil über die Big Five (die fünf Hauptpersönlichkeitseigenschaften: Offenheit für Erfahrungen, Gewissenhaftigkeit, Extraversion, Verträglichkeit und Neurotizismus) beschrieben werden kann.
Ein weiteres Problem ist die Erfassung des Konstrukts über reine Selbst­zuschreibungen anhand von Fragebögen. Es gibt bis dato keine anerkannten Kriterien zur objektiven Messung von Hochsensibilität, auch wenn erste Studien mit bildgebenden Verfahren nahelegen, dass die Gehirne empfindsamer Personen anders arbeiten als die von durchschnittlich sensiblen Menschen. Außerdem gehen die meisten Wissenschaftler davon aus, dass, sollte Hochsensibilität tatsächlich eine eigene Persönlichkeitseigenschaft sein, dieses Merkmal – so wie alle anderen auch – in der Bevölkerung normalverteilt vorliegen müsste, also Hochsensible keine eigene Spezies darstellen, wie Aron es postuliert.

Neurowissenschaftler verfolgen heute verschiedene Theorien, um Hochsensibilität zu erklären. Eine geht davon aus, dass die Gehirnregionen, in denen ankommende Sinnesreize gedämpft werden sollen, um so die Verarbeitung zu vereinfachen und eine Überstimulation zu verhindern, bei Hochsensiblen weniger aktiv sind. Anstatt also Reize abzuschwächen, werden sie fast ungebremst weitergeleitet, was dazu führt, dass der cerebrale Cortex stärker angeregt wird. Eine andere Theorie sieht die Ursache für Hochsensibilität im Thalamus, jener Region des Gehirns, die ankommende Sinnesreize nach Wichtigkeit filtert und darüber entscheidet, welche Informationen weitergegeben werden und welche nicht. Bei Menschen, die hochsensibel sind, stuft dieser Theorie zufolge der Thalamus mehr Reize als wichtig ein. Eine weitere hat den Hypothalamus im Blick, einen anderen Teil des Zwischenhirns, der gewissermaßen als Gefühlsregler fungiert. Er könnte bei hochsensiblen Menschen in veränderter Weise arbeiten. Welche dieser Annahmen nun stimmt? Vielleicht alle. Die Untersuchungen der nächsten Jahre werden diesbezüglich hoffentlich mehr Klarheit bringen.

Ich habe vor einiger Zeit den standardisierten Fragebogen zur Feststellung einer Hochsensibilität ausgefüllt und die maximale Punktzahl erreicht. Auch in Arons Beschreibungen von hochsensiblen Personen finde ich mich wieder. Allerdings gilt das gleiche für ADHS und Autismus. Hier erreiche ich ebenfalls in den entsprechenden Fragebögen hohe Werte. Ja was denn nun? Bin ich hochsensibel und der Rest ist – Fake? Meine ADHS-Diagnose nur Quatsch? Meine autistischen Züge – Einbildung? Wohl eher nicht. Fakt ist, dass sich die äußeren – und inneren – Erscheinungsbilder von Hochsensibilität, der Autismus-Spektrum-Störung und ADHS auf frappierende Weise überschneiden. Bei Autismus liegt die Gewichtung mehr bei den sozialen und kommunikativen Problemen, bei ADHS mehr bei der Aufmerksamkeit und/oder der Hyperaktivität. Reizoffen bzw. mit einer anderen Art der Wahrnehmung gesegnet sind aber alle drei. Recherchiert man im Netz, dann findet man viele Seiten von Kliniken, Psychologen, Therapeuten und Coachs, die in beinahe amüsanter Art und Weise versuchen, die einzelnen Besonderheiten voneinander abzugrenzen. Wer es ganz richtig machen will, nimmt auch noch den Hochbegabungskomplex hinzu. Da wird mal in die eine, mal in die andere Richtung argumentiert, hier ein Merkmal aufgegriffen, dort verglichen. Und heraus kommt fast immer: Die Persönlichkeitseigenschaft Hochsensibilität hat rein gar nichts mit ADHS und – je nach therapeutischer Ausrichtung, mal mehr, mal weniger mit Autismus zu tun, da das erste ja eine Krankheit und das zweite eine Entwicklungsstörung ist. Sehr häufig hingegen wird Hochsensibilität mit Hochbegabung bzw. mit hoher Begabung assoziiert, ebenso wie dies gerne bei hochfunktionalem Autismus getan wird.
Liebe Leute, habt ihr euch schon einmal überlegt, dass diese vielen wunderbaren Andersartigkeiten alle den gleichen Ursprung haben könnten, sich aber in der Ausprägung unterscheiden? Arons Mutmaßungen, der Hochsensibilität liege eine Reizoffenheit bzw. eine andere Art der Wahrnehmungsverarbeitung zugrunde, entspricht ziemlich genau der Intense-World-Theory, die in eben jener die Ursache für Autismus sieht. Es existieren mittlerweile einige Studien, die einen Zusammenhang zwischen sensorischen Besonderheiten und der Autismus-Spektrum-Störung belegen, manche Forscher sehen hochsensible Personen sogar als Teil dieses Spektrums. So stellten Takamitsu Watanabe vom RIKEN Center for Brain Science und Kollegen 2019 fest, dass bei Menschen im Autismus-Spektrum die Reaktion auf sensorische Reize in den dafür zuständigen Hirnregionen deutlich stärker ausfällt als bei neurotypischen Personen. Je höher die Sensitivität, desto stärker die autistischen Symptome. Sensorische Besonderheiten haben es als zusätzliches Diagnosekriterium bei der Autismus-Spektrum-Störung inzwischen sogar ins DSM-5 (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) geschafft. Und dass Menschen mit ADHS reizoffen sind, gilt bei Fachleuten als ausgemacht und wird durch viele Studien belegt. Der Grund für die Konzentrations- und Aufmerksamkeitsprobleme bei ADHS liegt zwar laut Aussage der meisten Wissenschaftler in einem verschobenen Transmitterhaushalt des Gehirns, doch stellt sich hier die Frage, was die Ursache ist und was die Wirkung. Interessant finde ich in diesem Zusammenhang, dass Medikamente, die Personen mit ADHS meist helfen, dies bei einer Autismus-Spektrum-Störung ebenfalls oft tun. Und warum haben Hochbegabte überproportional häufig eine Affinität zu Hochsensibilität, ADHS und der Autismus-Spektrum-Störung (und umgekehrt), wie verschiedene Studien belegen? Bloßer Zufall?

Meiner Ansicht nach könnte das Problem elegant gelöst werden. Angenommen, Hochsensibilität liegt als Persönlichkeitseigenschaft in der Bevölkerung normalverteilt vor, dann ist das Gros der Menschen mit ihrer Wahrnehmungsverarbeitung im Durchschnitt, ein Teil ist weniger sensibel (ca. 15 Prozent), ein sehr geringer fast gar nicht (ca. 2 Prozent). Und umgekehrt ebenso: Ein Teil ist sehr sensibel (ca. 15 Prozent), ein sehr geringer extrem sensibel (ca. 2 Prozent), die Übergänge sind fließend. Und wie immer sind es die Extrembereiche, die Probleme verursachen können, aber unter Umständen auch zu besonderen Leistungen befähigen. Die Körpergröße, ebenfalls normalverteilt, kann hier als Beispiel dienen. Normalgroße Menschen erleben in der Regel keine physiologischen oder gesellschaftlichen Limitationen. Bei den etwas kleineren und etwas größeren Personen ist meist auch noch alles in Ordnung, Vorteile und Nachteile halten sich die Waage. Doch je weiter man sich vom Mittelwert weg bewegt, je kleiner oder je größer ein Mensch also ist, desto mehr Einschränkungen erlebt er, angefangen beim Kleiderkauf über gesellschaftliche Teilhabe bis hin zu körperlichen Problemen. Allerdings kann gerade ein starkes Abweichen von der Norm auch der Grund für eine besondere Befähigung sein, sehr große Menschen haben beispielweise Vorteile in manchen Ballsportarten oder bei der Ausübung bestimmter Berufe, doch ist dies eher selten, meist überwiegen die Nachteile.
Auf Hochsensibilität übertragen bedeutet das: Je reizoffener ein Mensch, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass Probleme entstehen können, aber nicht müssen. Sie ergeben sich vor allen Dingen immer dann, wenn die Passung nicht stimmt – also die betroffene Person in ihrem engeren, manchmal auch weiteren Umfeld aufgrund ihrer Art zu sein auf Probleme stößt, die sie mit den Mitteln, die ihr zur Verfügung stehen, nicht lösen kann. Im einfachsten Fall entstehen Unzufriedenheit oder Minderwertigkeitsgefühle, im schlimmsten Fall psychische und/oder physische Erkrankungen. Ist hingegen die Passung gut oder sogar sehr gut, so können reizoffen Menschen erstaunliches leisten, da sie meist ausgesprochen kreativ und häufig auch überdurchschnittlich intelligent sind.

Könnte Hochsensibilität aka Reizoffenheit also die Grundlage sowohl für ADHS und Autismus-Spektrum-Störung als auch für Hochbegabung sein? Ich persönlich bin der Meinung, dass es sich so verhält, wobei sich die Situation natürlich viel komplexer darstellt, als es die Einfachheit meiner Darstellung vermuten lässt. Denn Reizoffenheit ist nur eines von vielen Merkmalen, die ein Mensch mit auf den Weg gegeben wird. Und alle Eigenschaften sind in jeder Person unterschiedlich ausgeprägt. Außerdem kommt noch die Umwelt mit ihren epigenetischen Einflüssen hinzu, nicht zu vergessen die mangelnde oder vorhandene Passung oder der Zufall. Fakt ist: auch sehr große Menschen unterscheiden sich in der Weise, wie sich ihre Größe zusammensetzt. Es gibt große Menschen, die lange Beine und einen kurzen Rumpf besitzen. Oder solche, die kurze Beine und einen langen Rumpf haben. Oder andere, bei denen die Beine und der Rumpf gleich lang sind. Aber alle sind weit überdurchschnittlich groß.

Ich wage mal eine Einordnung: überdurchschnittlich reizoffene Kinder mit guter bis perfekter Passung können sich je nach Veranlagungen/Talenten zu höher oder hoch begabten Erwachsenen im intellektuellen, künstlerischen, sportlichen oder wissenschaftlichen Bereich entwickeln. Diejenigen Kinder, die weit überdurchschnittlich reizoffen sind, gelingt es je nach Fähigkeitskonstellation, ihre Talente unter Umständen bis zur Genialität zu steigern, allerdings muss auch hier die Passung stimmen. Jene, bei denen die Passung nicht stimmt oder deren Eigenschaftskonstellation ungünstig ist, werden eventuell ihre Talente nicht voll zu Geltung bringen können oder unter Umständen so ausgebremst, dass sie zu Problemfällen werden bzw. zu solchen gemacht werden.
Diagnosen psychischer Erkrankungen orientieren sich am äußeren Erscheinungsbild bzw. an der Selbsteinschätzung des Hilfesuchenden (Fragebögen) und an dem, was der Diagnostiker wahrnimmt und in ein Symptomraster einsortieren kann, objektive und messbare körperliche Marker existieren in der Regel nicht oder sind nur mit enormen Aufwand überprüfbar. Wenn die Probleme bei einem Kind oder Erwachsenen aufgrund einer weit überdurchschnittlichen Reizoffenheit und einer schlechten Passung sehr ausgeprägt sind, kommt häufig eine Diagnose wie ADHS oder Autismus dabei heraus, welche die Menschen aber unter Umständen stigmatisiert und manchmal gar zur selbst erfüllenden Prophezeiung wird. Dabei wäre es sinnvoller, auf Diagnosen zu verzichten, die Reizoffenheit zur Kenntnis zu nehmen und das Passungsproblem zu beseitigen, indem man bspw. das Umfeld des Kindes oder Erwachsenen reizmindernd gestaltet, Rückzugsräume bietet und dem Kind oder Erwachsenen hilft, sich selbst zu beruhigen, wenn ihm alles zu viel wird. Wie immer ist es auch in diesem Fall besser, zur Selbsthilfe anzuleiten, als das Kind oder den Erwachsenen abhängig zu machen von gut gemeinten Therapien, die nichts oder nur wenig nützen, weil sie an der Lebensrealität der Betroffenen vorbeigehen oder die Personen mit Medikamenten zu versorgen, die eventuell eine Wirkung bei bestimmten Symptomen entfalten, aber andere Probleme in Form von Nebenwirkungen erzeugen, die dann wiederum behandelt werden müssen.

Studien belegen, dass sechzig Prozent der Patienten, die in psychiatrischen Kliniken therapiert werden, die Kriterien einer ADHS erfüllen bzw. diese Diagnose bei ihnen bereits im Vorfeld gestellt wurde. Das heißt nichts anderes, als dass weit überdurchschnittlich reizoffene Personen aufgrund von Passungsproblemen sehr häufig in der Psychiatrie landen. Ich finde das erschütternd. Noch viel erschütternder ist, dass diesen Menschen in der Regel nicht dauerhaft geholfen werden kann, da ein großer Teil von ihnen weiterhin mit psychischen Problemen zu kämpfen hat. Was vermutlich nichts anderes bedeutet, als dass die Passungsprobleme durch die Diagnosen und die Klinikaufenthalte nicht weniger, sondern eher mehr werden. Denn seien wir ehrlich: Diagnosen können stigmatisieren, was neue (Passungs-)Problemen heraufbeschwört. Manchmal identifiziert sich eine Person aber auch so stark mit ihrer Diagnose, dass sie hinter ihr verschwindet und die eigentlichen Schwierigkeiten – die Passungsprobleme – von ihr nicht gesehen und bearbeitet werden. Auf diese Weise ist Stillstand vorprogrammiert. Das gleiche gilt, wenn die Diagnose als Ausrede für alles benutzt wird. Die Verantwortung für das eigene Leben wird externalisiert. Manchmal kann eine Diagnose sicherlich Entlastung bringen, weil die Schuld für das Misslingen der eigenen Biografie nicht mehr (ausschließlich) bei einem selbst liegt, sondern gänzlich oder teilweise in die Krankheit/Störung ausgelagert wird. Fakt ist aber dennoch: Die Person mit der Diagnose ist in den Augen der Gesellschaft falsch. Irgendwas stimmt nicht mit ihr, sonst würde sie ja nicht solche Probleme mit sich und/oder dem Umfeld haben. Doch diese Sichtweise ist fatal! Nicht der Mensch ist falsch, sondern das Umfeld, in dem er lebt! Für eine Gesellschaft ist es natürlich viel einfacher, das Problem in die Person zu verlagern, als sich um Maßnahmen zu bemühen, dieser ein ihrem physiologischen Wesen entsprechendes Dasein zu ermöglichen. Ein Riese kann sich anstrengen wie er will, er wird niemals ein Zwerg werden. Interessanterweise würde das auch keiner von ihm erwarten. Aber von Menschen, die andere physiologische Voraussetzungen mitbringen als der Durchschnitt, wird dies selbstverständlich erwartet. Sie sollen sich an die Norm anpassen. Und wenn das nicht klappt, sind sie selbst schuld. Dann müssen sie sich eben noch mehr anstrengen! Wenn sie dabei kaputt gehen: Wenn interessiert’s? Betrifft ja nur eine Minderheit. Eine Minderheit allerdings, die durch ihre andere Art, die Welt zu sehen, sehr viel Potenzial besitzt, die Gesellschaft als Ganzes voranzubringen. Was für eine Verschwendung!

Ich persönlich finde es besser, die Stärken einer Person zu stärken und dadurch ihre Schwächen zu schwächen. Passungsprobleme könnten so verschwinden und Diagnosen wären überflüssig. Reizoffene Menschen, egal ob man sie nun aufmerksamkeitsgestört, depressiv, zwanghaft, autistisch oder was auch immer nennt, wären dann nur noch hochsensibel und nicht mehr krank, gestört, lebensuntauglich oder was ihnen sonst noch so attestiert wird.

Hilfe zur Selbsthilfe wäre der richtige Weg.

Quellen:

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3 thoughts on “Hochsensibel, ADHS oder doch Autismus?

  1. Herzlichen Dank für das Teilen deiner Gedanken! Ich hoffe es findet Gehör und kann mehr Aufgeschlossenheit bewirken!

  2. Vielen Dank für diesen ausführlichen Blog-Beitrag!
    Ich bin 44 Jahre alt und darauf gestoßen, weil ich nach ADHS, Autismus und Hochsensibilität gesucht habe, weil ich Anteile aller drei Andersartigkeiten an mir erkenne und mich frage was mir das Leben schwer macht. Zu einer Untersuchung auf ADHS bin ich seit drei Monaten angemeldet und nutze die Wartezeit bis zum Untersuchungstermin (etwa ein Jahr) um mich selbst, von verschiedenen Seiten, näher zu beleuchten.

    Dass diese drei Neuro-Typen irgendwie artverwandt sind und auch alle drei in einer Person vereint sein könnten, lese ich hier zum ersten Mal. Das macht mir Hoffnung mich noch besser verstehen zu lernen und auch meine neuro-untypische Frau und unsere Tochter, deren Andersartigkeit nicht so gut mit ADHS alleine erklärt werden kann, dafür aber mehr mit Hochsensibilität.

  3. Seh ich auch so.
    Ich kenne auch einen Psychologieprofessor, der auf ADHS spezialisiert ist, der meint, ein Hochsensibler wāre auch ein Asperger etc., es gābe kein Entweder-Oder, sondern nur ein UND.
    D.h. es handelt sich nur um Begrifflichkeiten, mit dem einen Begriff wird man stigmatisiert, mit dem anderen nicht.
    Wenn die ganze Forschung dazu noch in den Kinderschuhen steckt, finde ich es sowieso lachhaft, einen Menschen hier auf eine Diagnose festlegen zu wollen.

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