Lamas Weihnachtsgeschichte

Lama ärgert sich. Heute klappt aber auch gar nichts. Der ältere Herr neben ihm beäugt ihn argwöhnisch und tastet nach seiner Brieftasche, die zum Leidwesen von Lama noch genau dort ist, wo sie hingehört. Ruckelnd fährt die U 15 in die Haltestelle ein. Die zwei Sicherheitsleute sieht Lama schon von weitem. Hastig verlässt er die Bahn.
Der 24. Dezember fällt dieses Jahr auf einen Sonntag. Alle Geschäfte sind geschlossen, die Weihnachtsmärkte auch, es sind kaum Leute unterwegs. Wie soll er da an Bares kommen?
Lama spürt den Entzug immer stärker. Seine Hände zittern. In diesem Zustand wird es ihm nicht gelingen, auch nur einen Euro zu klauen. Aber auf Pump Stoff zu bekommen, braucht er gar nicht erst zu versuchen. Das hatte er früher einmal gemacht, doch danach war sein rechter Arm gebrochen.
Die Temperaturanzeige der Apotheke flackert. Ein Grad über Null. Dunkelheit sackt langsam zwischen die Häuserzeilen, in den Fenstern beginnen Lichter zu glimmen. Eine zerrupfte Taube humpelt vor Lama auf dem Gehsteig hin und her. „Hau ab. Ich hab nix“, sagt er und dreht sich um.
Lama hasst Weihnachten. Weihnachten, das Fest, an dem sich seine Mutter unter dem Tannenbaum den goldenen Schuss gesetzt hatte. Sechs war er damals gewesen. Danach kamen die Weihnachten bei wechselnden Pflegeeltern, die in den Heimen und seit ein paar Jahren die auf der Straße, weniger stressig zwar, aber dafür umso kälter.
Als Lama sich in dem kleinen Park neben der Gereonskirche auf eine Bank setzt, flattern seine Knie. Trotz der Kälte ist ihm auf einmal sehr heiß, vor seinen Augen fahren die Bäume Karussell. Sein Magen möchte den Körper verlassen.
Wo der Lulatsch im schwarzen Mantel hergekommen ist, kann Lama nicht sagen. Plötzlich steht er vor ihm. Sein Gesicht erinnert Lama an den Mond – rundlich, blass, blondes Haar, kurzgeschoren. Obwohl die nächste Straßenlaterne weit entfernt ist, kann er den Mann deutlich erkenne.
„Wenn du einen Wunsch frei hättest, was wäre das für einer?“ Die Stimme des Langen klingt nach bröselndem Butterkeks.
„Hä?!“ In Lamas Gehirn brennt gerade ein Weihnachtsbaum. Der Lulatsch wiederholt seine Frage.
„Stoff“, nuschelt Lama als Antwort.
Der Mann im schwarzen Mantel schaut ihn an. „Nicht lieber ein besseres Leben?“
Lama rotzt dem Langen vor die Füße. „Was soll der Scheiß, Alter? Ich brauch Geld fürn Schuss. Sonst nix. Haste welches?“
Der Mann schweigt. Er scheint nachzudenken. Dann holt er aus seiner Manteltasche ein paar Scheine und gibt sie Lama.
Lama starrt auf das Geld. Er kann sein Glück kaum fassen. Als er wieder aufblickt, ist der Lulatsch verschwunden.
Franco ist noch da und verkauft Lama sein bestes Zeug. Wegen Weihnachten. In der Gereonskirche beginnt gerade die Christmette. Das Dröhnen der Orgel dringt bis auf die Straße. Lama ignoriert es; er hockt sich in einen Hauseingang und bereitet mit fahrigen Fingern den Schuss vor. Es dauert lange, das Feuerzeug will nicht zünden, doch dann ist es endlich soweit. Als das Heroin über das Blut bis in Lamas Gehirn vordringt und dort einen Wald von Kerzen entzündet, der so hell brennt wie nie zuvor in seinem Leben, ahnt er, dass er ein Problem hat. Dann schwindet sein Bewusstsein.

Hilla marschiert die Christophstraße entlang. Die Kälte beißt ihr in den Nacken, am Morgen hat sie ihren Schal vergessen. Noch fünfhundert Meter, dann ist sie zu Hause. Vierter Stock, Dachgeschoss, eine winzige Wohnung mit drei Zimmern. Hilla reicht das.
Ihre Schicht auf der Intensivstation heute ist ereignislos verlaufen. Dramen wird es für sie erst an Sylvester wieder geben, denn bis dahin hat sie Urlaub.
Hilla hasst Weihnachten, seit ihr Mann ihr vor fünfundzwanzig Jahren unter Lametta und Lichterketten gebeichtet hatte, dass es eine andere Frau in seinem Leben gab. Noch am selben Abend setzte sie ihn vor die Tür. Danach waren Männer für Hilla gestorben. Als ein paar Jahre später der Wunsch nach einem Kind auftauchte, überlegte sie kurzzeitig, es noch einmal mit einem Exemplar des anderen Geschlechts zu versuchen, doch sie verwarf den Gedanken rasch wieder. Ihre attraktiven Zeiten, wenn es sie denn jemals gegeben hatte, waren schließlich längst vorbei.
Hilla biegt hinter der Gereonskirche nach rechts ab. Das Singen der Christmettenbesucher entlockt ihr ein verächtliches Schnauben. Mit dem Zeug ist sie durch, schon seit Jahren. Sie wirft einen Blick zum Himmel, der als dunkles Tuch über der Stadt hängt. Keine Sterne zu erkennen, zu viel Licht überall. Die Gestalt, die einige Meter weiter in einem Hauseingang liegt, hätte sie fast übersehen. Nur aus dem Augenwinkel nimmt sie zwei verdrehte Beine wahr. Irgendetwas an dieser Haltung weckt schlagartig die Ärztin in ihr. Sie geht näher heran und beugt sich zu der Gestalt hinunter. Ein Junge liegt da, höchstens siebzehn, achtzehn Jahre alt, die Spritze steckt noch in seinem Arm, sein Gesicht ist blau angelaufen. Atemlähmung durch Heroinüberdosis. Hilla weiß, was zu tun ist. Geschäftsmäßig tastet sie nach dem Puls, findet nichts. Da der Körper des Jungen noch ganz warm ist, ruft sie mit ihrem Handy den Notarzt. Dann macht sie sich an die Arbeit. Das Beatmungsprogramm spult sie ab ohne nachzudenken.
Als sie endlich das Martinshorn hört, ist sie schweißgebadet. Rettungswagen und Notarztfahrzeug erreichen fast gleichzeitig die schmale Gasse, ihr Blaulicht zuckt rhythmisch über die umliegenden Hausfassaden. Hilla kennt den Notarzt, der aus dem Wagen springt, sie nickt ihm zwischen zwei Atemstößen zu. Mit ruhiger Hand öffnet der Mann seinen Koffer und zieht das Naloxon auf eine Spritze. Nach der Injektion dauert es nur wenige Sekunden, bis sich die Gesichtsfarbe des Jungen normalisiert und er wieder regelmäßig zu atmen beginnt. Bald darauf öffnet er die Augen. Routiniert untersucht der Notarzt mit ein paar raschen Tests, ob der Junge kognitive Einbußen zurückbehalten hat, aber es scheint alles in Ordnung zu sein. Nach Namen und Adresse gefragt, schweigt er. Und als der Notarzt ihn zum Rettungswagen führen will, reißt er sich los.
„Ich gehe in kein Krankenhaus.“
Der Arzt bleibt gelassen. „Die Wirkung von Naloxon hält nur kurz an. Kann sein, dass deine Atmung erneut aussetzt. Es ist also nur zu deiner eigenen Sicherheit.“
Der Junge schüttelt den Kopf.
„Okay. Wir machen auch keine Meldung bei der Polizei, versprochen.“
Kopfschütteln.
Hilla mischt sich ein. „Gib mir ein Notfall-Kid. Ich pass heut Nacht auf ihn auf.“ Der Arzt sieht sie zweifelnd an. „Ist doch Weihnachten, Hans.“
Der Mann zögert kurz, dann geht er zum Notarztfahrzeug und kommt kurz darauf mit einem kleinen Päckchen zurück. Hilla steckt es in ihre Handtasche.
„Ist dein Glückstag heute.“ Der Arzt nickt dem Jungen zu und verschwindet in seinen Wagen. Kurz darauf zockeln die beiden Einsatzfahrzeuge Richtung Friesenstraße davon.
„So, das hätten wir. Jetzt zu dir: Wie heißt du?“ Hilla baut sich breitbeinig vor dem Jungen auf und sieht in streng an. Seine Bockigkeit ist verflogen, mit hängenden Armen steht er vor ihr. Er ist dünn und knochig und nicht besonders groß. Seine Haare sind schmutzig verfilzt und heller als der Bartflaum auf seinen Wangen.
„Lama“, flüstert er.
„Echt jetzt?“ Hilla lacht, schüttelt den Kopf.
„Weil ich am weitesten spucken konnte. In der Schule.“
„Na gut, Lama. Dann komm mal mit. Ist nicht mehr weit bis zu mir nach Hause. Kannst im Gästezimmer auf der Couch schlafen. Allerdings musste vorher duschen.“
„Meine Sachen“, wendet Lama ein. „Ich muss die noch bei meinem Kumpel abholen.“
„Kannste auch morgen machen. Jetzt ist Ende Gelände. Capito?“
Lama zuckt mit den Schultern und schlurft hinter Hilla her.

Es ist Weihnachten und Hilla hat weder Baum noch Plätzchen. Zum ersten Mal in fünfundzwanzig Jahren bereut sie es.
Es ist Weihnachten und Lama sitzt frisch geduscht und in einem viel zu weiten Jogginganzug in der fremden Küche bei Kaffee und Kirschmarmeladenbrot. Zum ersten Mal in achtzehn Jahren vermisst er sowohl Baum als auch Plätzchen.
Hilla beschließt spontan, welche zu backen. Irgendwie gelingen ihr ein paar angebrannte Spekulatius. Lama hilft ihr, den Ficus mit alten Geschenkbändern und Sternen aus Alufolie zu schmücken. Als sie gemeinsam überlegen, welches Weihnachtslied sie singen können, einigen sie sich in Ermangelung von Alternativen auf O Tannenbaum. Sie wiederholen dreimal die erste Strophe – weitere fallen ihnen nicht ein -, danach stoßen sie mit warmen Punsch aus alkoholfreiem Rotwein, Zucker und Orangensaft an.
Am nächsten Morgen besorgt Hilla in der Notfallapotheke Medikamente für Lama, damit der Entzug nicht zu schmerzhaft wird. Im neuen Jahr, nachdem das Schlimmste vorbei ist, kaufen sie gemeinsam Klamotten für ihn. Der Junge sieht nun fast gesund aus und schreit auch nachts nicht mehr im Schlaf.
Nach zwei Monaten gestalten Hilla und Lama gemeinsam das Gästezimmer um. Die Wände werden hellgrün gestrichen, ein paar neue Möbel aufgestellt. Lama hängt ein Bild der Gereonskirche an die Wand. Er hat mittlerweile etwas zugenommen und wirkt wie ein ganz normaler Achtzehnjähriger.
Hillas Bruder, der Kfz-Mechaniker, kommt hin und wieder zu Besuch. Er versteht sich gut mit Lama. Sie unterhalten sich über Autos und schauen im Fernsehen die Rennen der Formel 1. Irgendwann erzählt der Bruder, dass in der Werkstatt, in der er arbeitet, ein Lehrling gesucht wird. Ob das etwas für Lama wäre?
Wäre es. Aber Lama hat keinen Schulabschluss. Der Bruder verspricht, sich für ihn bei seinem Chef einzusetzen. Der Besitzer der Werkstatt ist einverstanden, dass Lama zwei Wochen auf Probe arbeitet. Danach soll entschieden werden, ob er die Lehrstelle bekommt oder nicht.
Lama ist geschickt mit den Händen und begreift sehr schnell, was von ihm verlangt wird. Bereits nach zehn Tagen hat er den Ausbildungsplatz. Im Berufsschulunterricht zeigen sich zu Anfang Lücken, die er jedoch mit Hilfe von Hilla und ihrem Bruder rasch schließt. Nach dreieinhalb Jahren beendet er seine Ausbildung zum Kfz-Mechatroniker mit der Note sehr gut.

Wieder ist Weihnachten. Lama wühlt sich durch die Menschenmassen auf der Domplatte. Er ist bei den Eltern seiner Verlobten zum Essen eingeladen gewesen und nun auf dem Weg zu Hilla. Er hat zwar mittlerweile eine eigene Wohnung, aber den Heiligen Abend verbringt er immer noch bei ihr, trinkt süßen Punch und packt unter dem Ficus zusammen mit ihr Geschenke aus.
Lama hat fast die Stufen zur Domplatte erreicht, als ihm eine Gestalt auffällt, die über die Masse der Menschen hinausragt. Es ist ein Mann; er trägt einen schwarzen Mantel, das Gesicht ist rund und blass, das blonde Haar kurzgeschoren. Sein Blick ruht auf Lama. Er lächelt.
Lama bleibt abrupt stehen. Er starrt den Langen an, weiß nicht, was er tun soll, wartet. Doch es passiert nichts. Die Menschen schieben und schubsen, Nieselregen schwebt vom Himmel und bildet auf allen Oberflächen ein Heer aus winzigen, schimmernden Perlen.
Lama gibt sich einen Ruck und kämpft sich zu dem Langen durch, der ihn noch immer anlächelt. Er will etwas sagen, doch ihm fällt nichts ein. Der Mann sieht ihn an, seine Augen sind blau und leuchten hell. Lama schluckt. Plötzlich weiß er, was er sagen will.
„Danke.“

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