Wortbilder

Autist:innen und ADHSler:innen können Umweltreize nicht oder nur schwer ausblenden. Sie bekommen alles mit, ob sie wollen oder nicht und das von klein auf. Sobald sie in der Schule Lesen und Schreiben lernen, fangen bei vielen von ihnen die Probleme an. Eine umschriebene Lese-Rechtschreibstörung (LRS) liegt laut dem internationalen Klassifikationsschema ICD-10 der Weltgesundheitsorganisation (WHO) vor, wenn anhaltende und eindeutige Schwächen im Bereich der Lese- und Rechtschreibung nicht auf das Entwicklungsalter, unterdurchschnittliche Intelligenz, fehlende Beschulung, psychische Erkrankung oder Hirnschädigung zurückgeführt werden können. Somit gilt LRS als Krankheit.
LRS ist bei ca. vier Prozent der Normalbevölkerung zu finden, aber bei bis zu dreißig Prozent der ADHSler:innen und bei ca. vierzehn Prozent der Autist:innen, wobei es hier nur wenige quantitative Untersuchungen gibt. Ich persönlich glaube allerdings, dass eine Lese-Rechtschreibstörung bei viel mehr Kindern mit ADHS und Autismus vorkommt als die Zahlen dies nahelegen. Und dafür gibt es verschiedene Ursachen. Um einen der Gründe zu verstehen, muss man wissen, wie LRS diagnostiziert wird.

Wenn ein Kind in Deutschland Probleme mit dem Lesen und Schreiben hat, die über das normale Maß hinausgehen, wird den meisten Eltern von der Schule empfohlen, eine Fachkraft aufzusuchen und ihr Kind bei dieser auf LRS testen zu lassen. Je nach Bundesland übernehmen auch Schulen oder Schulpsycholog:innen diese Untersuchungen, allerdings sind sie oft nicht sehr genau und damit wenig aussagekräftig. Wenn das Kind sich wegen Autismus oder ADHS ohnehin in Behandlung bei einem Facharzt oder einer Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie befindet, wird dieser bzw. diese sehr wahrscheinlich auch die Testung vornehmen. Standard in diesem Fall ist ein Intelligenztest, bei dem das intellektuelle Leistungsvermögen des Kindes festgestellt wird. Daran an schließen sich normierte Tests zur Lese- und Rechtschreibfähigkeit. In der Regel handelt es sich bei dem Intelligenztest um den WISC (Wechsler Intelligence Scale for Children), dem am häufigsten verwendeten Intelligenztest für Kinder weltweit. Die Einschätzung des intellektuellen Niveaus ist deshalb wichtig, weil als Ursache für die LRS eine unterdurchschnittliche Intelligenz ausgeschlossen werden soll (s. o.), d. h. die intellektuelle Leistungsfähigkeit des Kindes wird in Beziehung gesetzt zu seiner Lese-Rechtschreibleistung. Ganz platt ausgedrückt bedeutet das: Ein Kind, das viele Fehler beim Schreiben macht und sich beim Lesen schwertut, aber beim Intelligenztest schlecht abschneidet, hat keine LRS, sondern ist einfach nur dumm. Ein Kind, das ebenfalls viele Fehler macht, dessen gemessenes intellektuelles Niveau aber höher liegt, hat eine LRS. Zudem wird von einem weniger intelligenten Kind eine geringere Lese-Rechtschreibfertigkeit erwartet als von einem höher intelligenten. Erfüllt das intelligentere Kind diese Erwartungen nicht, leidet es unter einer LRS. Je intelligenter das Kind, desto weniger Fehler muss es bei den Lese-Rechtschreibtests machen, um dennoch eine LRS bescheinigt zu bekommen.
Dreh- und Angelpunkt bei der LRS-Diagnostik ist also der Intelligenztest. Solche Tests werden in der Regel anhand einer Stichprobe aus der Normalbevölkerung validiert. Hierbei ergibt sich dann die übliche Gaußverteilung. Die meisten Menschen, etwa Zweidrittel (68 %) eines Altersjahrgangs, erreichen bei Intelligenztests einen Intelligenzquotienten (IQ) zwischen 85 und 115. Extrem niedrige und extrem hohe Werte sind selten. Etwa 2 % des Jahrgangs haben einen sehr niedrigen IQ (unter 70), etwa 2 % des Jahrgangs haben einen sehr hohen IQ (über 130).
Das Problem ist, dass weder Autist:innen noch ADHSler:innen zur Normalbevölkerung gehören, sondern mit ihrer Art der Wahrnehmung ziemlich aus dem Rahmen fallen. Für die Intelligenztestung hat das Folgen. Autist:innen und ADHSler:innen sind, wie eingangs bereits erwähnt, reizoffen und damit ablenkbar durch kleinste innere und äußere Impulse, sie sehen Details, die andere nicht bemerken und lassen sich dadurch leicht verunsichern, sie haben Probleme in der Kommunikation und können Instruktionen kaum so folgen wie sie es sollten. Viele der Aufgaben in einem Intelligenztest müssen zeitlich limitiert bearbeitet werden. In der neusten Version des WISC werden folgende Kernkompetenzen abgefragt: Visuell-räumliches Denken, fluides Schlussfolgern, Verarbeitungsgeschwindigkeit, Arbeitsgedächtnis und Sprachverständnis. Daraus ergibt sich dann der Gesamt-IQ. Es ist leicht nachzuvollziehen, dass Autist:innen und ADHSler:innen mit LRS ganz unabhängig von der Intelligenz sowohl mit der Zeitlimitierung als auch mit den zum Teil sehr sprachlastigen Aufgabenstellungen Probleme haben. Hinzu kommen die leichte Ablenkbarkeit, die extreme Detailwahrnehmung und die damit verbundene Verunsicherung, ganz zu schweigen vom ohnehin erhöhten Stresslevel durch die dauerhafte Reizüberflutung. Leider wird all dies bei der Testung nicht berücksichtigt, eine Ablaufänderung ist im Begleithandbuch oft gar nicht vorgesehen. Was folgt daraus für die Autist:in oder die ADHSler:in? Das Ergebnis des Intelligenztests spiegelt häufig nicht ihre wirkliche intellektuelle Leistungsfähigkeit wieder, sondern liegt – oft weit – darunter. Schlechter IQ aber bedeutet meist: keine LRS-Diagnose. Und entsprechend auch keine Lese-Rechtschreib-Förderung und keinen Nachteilsausgleich. Das sollte so nicht sein, ist aber leider diagnostischer Alltag. Dabei hat bereits 2007 Laurent Mottron, Spezialist für kognitive neurowissenschaftliche Autismusforschung an der Universität von Montreal, festgestellt, dass die meisten herkömmliche Intelligenztests und vor allem der WISC die Leistungsfähigkeit von Autist:innen unterschätzen.

Wenn der Anteil der Kinder mit einer LRS unter Autist:innen und ADHSler:innen höher liegt als es die offiziellen Zahlen vermuten lassen, hat das, neben einer fraglichen Diagnostik, noch einen anderen Grund. Und der hat mit der anderen Wahrnehmung von Autist:innen und ADHSler:innen zu tun.
Von Geburt an denken alle Kinder in wahrnehmungsbezogenen Bildern. Erst wenn sie zu sprechen beginnen, entwickelt sich nach und nach sprachgebundenes Denken. Bildhaftes Denken ist schnell, divergent und assoziativ, während sprachgebundenes Denken eher langsam und sequenziell ist, aber Abstraktion und logisches Schlussfolgern vereinfacht. Bei den meisten Menschen wird es mit der Zeit zum vorherrschenden Denkstil, da es in unserem Schulsystem stark gefördert wird. Autist:innen und ADHSler:innen bleiben dagegen bevorzugt Bilderdenker, weil sie die Vielzahl an ankommenden Reizen so am schnellsten verarbeiten können.
Lesen und Schreiben lernen die Kinder, in dem einzelnen Buchstaben oder Buchstabenpaarungen bestimmte Laute zugeordnet und später zu Silben und Wörtern verbunden werden. Das sprachgebundene, sequenzielle Denken ist dabei sehr hilfreich, weil alles schön nacheinander passiert und jeder Buchstabe sein spezifisches Aussehen und seinen besonderen Platz hat. Anders sieht das bei Bilderdenker:innen aus. In ihren Köpfen erscheinen die Buchstaben als dreidimensionale Gebilde, die gedreht, gekippt und auf den Kopf gestellt werden können und daher keine feststehende Form besitzen. Ihr assoziativer Denkstil verleitet sie dazu, wenn ein b gefragt ist, ein d zu malen und umgekehrt. Oder ein p. Oder ein M anstatt eines W. Sie verstehen auch nur schwer den Unterschied, denn die Buchstaben flutschen in ihrem Hirn ständig durch die Gegend und wollen sich einfach nicht fassen lassen. Daher brauchen sie viel, viel länger für den Schreiblernprozess als die primär sprachgebundenen Denker:innen. Erschwerend kommt hinzu, dass auch die Lehrmethoden nicht zu ihrer Art des Denkens passen, da sie sich am sprachgebundenen Denkstil orientieren. So hinken die Bilderdenker:innen bald ihren Klassenkamerad:innen und den Erwartungen der Eltern und Lehrer:innen hinterher. Wenn sie dann – endlich – das Schreiben gelernt haben, fangen die Probleme mit der Orthografie an. Es gibt so viele Möglichkeiten, ein Wort falsch zu schreiben! Und alle sind im Kopf der Bilderdenker:in präsent, denn Dank ihrer ausgeprägten Detailwahrnehmung haben sie jeden Fehler schon einmal irgendwo gesehen – bei der Tischnachbar:in, der Freund:in, dem Geschwisterkind – und verinnerlicht. Welches ist nun die richtige Version? Pferd oder Verd oder Ferd oder Pfert oder Vert oder Fert? Sie springen von der einen zur anderen und brauchen unendlich lange, bis sie sich die richtige einprägen können. Selbst wenn sie viele Male die korrekte Variante benutzt haben, bringt Stress und ihr assoziativer Denkstil sie dazu, doch wieder die falsche hinzuschreiben.
Beim Lesenlernen erwarten Bilderdenker:innen ähnliche Probleme. Handelt es sich bei dem Buchstaben, den ich da sehe, um ein p, ein d, ein b oder doch ein d? Das ist sehr mühsam und dauert viel länger als bei sprachgebundenen Denker:innen. Und später müssen sie die Wortbilder auch erst einmal korrekt erkennen, bevor sie sie aussprechen können. Die Eule flattert eben nur als Vogel durch ihren Kopf, nicht als E u l e .
Bilderdenke:innen haben manchmal auch Probleme mit Zahlen, allerdings gibt es hier zum Glück weniger Verwechslungsmöglichkeiten als bei den Buchstaben. Trotzdem existieren genug Stolpersteine, die einer Bilderdenker:in straucheln lassen können. Müssen die Zahlen beim Addieren nun links- oder rechtsbündig untereinander stehen? Soll ich die obere von der unteren Zeile abziehen oder umgekehrt? Heißt der Bruch 1/2 oder 2/1?

Auch Kinder mit Autismus oder ADHS können sprachgebundenes Denken. Aber sie sind dazu häufig erst viel später als ihre Altersgenoss:innen in der Lage, was mit ihrer Reizoffenheit und der daraus resultierenden anderen Gehirnvernetzung zusammenhängt (s. Intense World). Oft bleibt ihr bevorzugter Denkstil das Bilderdenken. Natürlich hat das auch Vorteile. Bilderdenken ist, wie bereits erwähnt, schnell, divergent und assoziativ. Bilderdenker:innen können scheinbar Widersinniges leichter in Einklang bringen als andere und sind so in der Lage, neue Ansätze zur Lösung von Problemen zu finden, die unlösbar erscheinen. Sie denken nicht in Kategorien wie wenn/dann, sondern eher wie sowohl/als auch. Diese Art des Hirngebrauchs befördert Kreativität, im wissenschaftlichen ebenso wie im künstlerischen Bereich. Und weil Bilderdenker:innen nicht nur das große Ganze sehen, sondern auch oder gerade besonders die Details, erkennen sie häufig den dort steckenden Teufel.
Manche Bilderdenker:innen entwickeln eine Vorliebe für Muster oder Systeme, ihr Denken ist meist analytisch und strukturiert, sie lieben Zahlen und Mathematik. Andere wiederum sind so sehr darum bemüht, sich das sprachgebundene Denken anzueignen, dass sie zu regelrechten Spezialist:innen auf diesem Gebiet werden, sie überkompensieren also. Laut Laurent Mottron nehmen viele Autist:innen ihr sprachgebundenes Denken als getrennt von ihrem bildhaften Denken wahr, als zwei eigenständige Bereiche, die je nach Bedarf aktiviert werden, während neurotypische Menschen dies nicht tun.

Als Kind hatte ich vermutlich auch eine LRS. Damals war eine Diagnose allerdings eher selten und kam in der Regel nur dann zustande, wenn die Probleme wirklich sehr, sehr gravierend waren und bereits sehr früh auftraten.
Mein Drama begannen in der ersten Klasse: Ich konnte zwar wunderbar zeichnen und Buchstaben perfekt von der Tafel abmalen, verstand aber nicht, was sie bedeuteten. Folglich war ich auch nicht in der Lage, Wörter oder gar Sätze zu lesen. Nur fiel das niemandem auf, weil ich durch die ständigen lauten Wiederholungen der Leseübungen diese auswendig konnte. Wenn ich aufgerufen wurde, ratterte ich meinen Text herunter und niemand kam auf die Idee, dass etwas nicht stimmte. Bis zu dem Tag, an dem die Lehrerin mich aufforderte, eine neue, noch völlig unbekannte Übung zu lesen. Da versagte ich auf ganzer Linie. Und das mitten im zweiten Schulhalbjahr, alle anderen Kinder beherrschten bereits, wozu ich nicht einmal ansatzweise in der Lage war. Am Ende der ersten Klasse nicht lesen zu können, hätte meine Versetzung gefährdet. Damals drohte solchen Kindern noch eine Sonderbeschulung.
Meine Mutter übte ab da jeden Tag mit mir, es gab Tränen über Tränen, aber am Ende des Schuljahrs konnte ich lesen. Und wurde in die zweite Klasse versetzt.
Das nächste Mal Probleme bekam ich in der fünften Klasse der Realschule, meine Orthografie, die noch nie gut gewesen war, wuchs sich im Laufe des Schuljahrs zu einer Katastrophe aus. Erst, als ich in der siebten Klasse während einer langen Krankheitsphase aus lauter Langeweile exzessiv alles zu lesen begann, was mir zwischen die Finger kam, verbesserte sich meine Rechtschreibung schlagartig. In Deutsch war ich bald eine Musterschülerin. Zu dem Zeitpunkt wurde mir klar, was für Möglichkeiten mir die Schriftsprache bot. Ich konnte die vielen verrückten Dinge, die in meinem Kopf stattfanden, in Worte fassen und mich mitteilen. Wahnsinn.
Seit damals schreibe ich.
Neben der Verbesserung meiner Orthografie und der Entwicklung eines ausgeprägten Denkens in Sprache hatte die Sache noch einen anderen angenehmen Nebeneffekt. Bis ins Teenageralter hinein war ich ziemlich schlecht darin, zwischen den Zeilen zu hören. Will heißen: Ironie, Sarkasmus oder Doppeldeutigkeiten kamen bei mir nicht an und häufig war ich die letzte, die einen Witz verstand, wenn ich ihn denn überhaupt verstand. Oft wusste ich nicht, was die Leute, mit denen ich mich unterhielt, mit bestimmten Aussagen meinten. Das änderte sich nun. Ich lernte, dass Sprache über die reine Wortbedeutung hinausgeht und Menschen manchmal etwas sagen, aber eigentlich das Gegenteil meinen. Oder Übertreibung ein Stilmittel sein kann. Oder schwarzer Humor sehr viel Spaß macht, wenn man ihn versteht. Mittlerweile habe ich selbst einen solchen und sowohl Ironie als auch Sarkasmus verwende ich heute ganz selbstverständlich. Nur hin und wieder, wenn ich jemanden nicht gut kenne, passiert es mir, dass ich nicht verstehe, was er mir wirklich mitteilen will. Dann muss ich nachfragen.

Für mich sind das Denken in Sprache und das Denken in Bildern tatsächlich zwei völlig voneinander getrennte Bereiche. Meine Geschichten entstehen in meinem Kopf aus Bildern, die ich zu Filmen verdichte und später während des Schreibprozesses in Worte übersetze. Ein bisschen anders ist es bei Sachtexten oder Essays. Da kommen häufig Bilderdenken und sprachgebundenes Denken gleichberechtigt zum Einsatz. Meine Gedankengänge sind dann deutlich strukturierter, folgen herausgearbeiteten Mustern und Divergenzen werden unmittelbar hinterfragt und verarbeitet. Mittlerweile würde ich mich selbst als Spezialistin auf dem Gebiet des sprachgebundenen Denkens bezeichnen.

Denken in Bildern und Denken in Sprache sind zwei gleichberechtigte Stile und können sich wunderbar gegenseitig ergänzen. Wenn nun aber Bilderdenken die Ursache für LRS ist, ist LRS dann eine Krankheit? Wohl kaum. Das Problem besteht eher darin, dass sich die gängigen Lehrmethoden am sprachgebundenen Denkstil orientieren. Mit diesen kommen Bilderdenker:innen aber nicht zurecht. Die Lösung wäre eine Didaktik, die Lerninhalte, gerade beim Lese- und Schreiblernprozess, auch für Bilderdenker:innen passend vermittelt. Eine Pathologisierung von Andersdenkenden ist jedenfalls nicht die Lösung.

Quellen:

  • Georg Theunissen (Hrsg.): Autismus verstehen: Außen- und Innensichten, Kohlhammer Verlag, Stuttgart, 2020
  • Temple Grandin: The Way I See It, Future Horizonts, Arlington, 2011
  • Laurent Mottron: Begabte Sonderlinge. Spektrum der Wissenschaft, Gehirn & Geist 3/2013, S. 36, 2013
  • Lina Werpup-Stüwe, Franz Petermann: Visuelle Wahrnehmungsleistungen bei Kindern mit Lese- Rechtschreibstörung. Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, 43, pp. 195-205, 2015, https://doi.org/10.1024/1422-4917/a000353

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