Am Morgen, als sie aufstand, saß die Krähe schon auf dem Geländer ihrer kleinen Loggia. Das tat sie bereits seit einigen Monaten. Anfangs vermutete Klara, dass sie angelockt wurde von den Futterresten in dem alten Vogelhäuschen auf ihrem Balkon. Doch mittlerweile war sie sich nicht mehr sicher. Denn obwohl sie jeden Tag neue Körner auslegte, fraß das Tier nie etwas davon.
Klara starrte hinaus in den Dunst, es hatte geregnet in der Nacht. Die Krähe sah sie mit schräg geneigtem Kopf an. »Rabenvögel«, hatte ihr Vater gesagt, »gehören zu den intelligentesten Lebewesen überhaupt.« Ihr Vater, der Professor für Ornithologie gewesen war und nun im Zentralkrankenhaus der Stadt im Koma lag. Von all den wundervollen Vögeln auf der Welt hatte er die Krähen am meisten geliebt. »Krähen und Raben bilden eine eigene Gattung innerhalb der Rabenvögel und unterscheiden sich hauptsächlich durch ihre Größe voneinander. In der nordischen Mythologie spielen sie eine wichtige Rolle. Sie sind die weisen Ratgeber, die Helfer in der Not, die Hoffnungsträger.« Klara hatte sich früher für die Ausführungen ihres Vaters nicht sonderlich interessiert, aber jetzt beobachtete sie das Tier, das elegant auf dem Geländer hockte, mit Neugier. Auf seinem Gefiedert schimmerten tausende winzigster Wassertropfen. »Hübsch bist du«, sagte Klara durch die Glasscheibe zum Vogel. Erneut wendete die Krähe den Kopf seitwärts und sah Klara an, die schwarzen Augen glänzten metallisch. »Trotzdem bist du schuld, dass mein iPhone kaputt ist.« Zu Beginn der Krähenbesuche hatte Klara versucht, den Vogel zu fotografieren und ihn dabei offenbar so erschreckt, dass er aufflog und das Gerät attackierte. Der Sturz aus ihrer Hand war dem Display nicht gut bekommen. »Aber ich kriege ja heute ein neues«, sagte Klara versöhnlich und klopfte an die Scheibe.
»Krah, krah, krah«, antwortete die Krähe.
Klara wandte sich ab und ging ins Bad. Sie musste sich zurecht machen für den Gedenkgottesdienst. Mit einem Seufzen steckte sie ihre langen Haare hoch. Ihr graute vor der Feier und noch mehr davor, den Heiligen Abend mit ihrer Familie zu verbringen. Das war auch früher nie einfach gewesen, doch seit dem letzten Fest hatte sich alles verändert. Am liebsten wäre Klara zu Hause in ihrer kleinen Studentenbude geblieben. Aber weil sie ihre Großeltern nicht enttäuschen wollte, zog sie das schwarze Mantelkleid an und stieg in ihre hochhackigen Stiefel. Bevor sie ihr Apartment verließ, blickte sie zum Balkon und winkte der Krähe, die unverändert auf dem Geländer hockte.
Klara war spät dran. In der Kirche stand ein Bild ihrer Mutter, umringt von Kerzen, ein Hauch von Weihrauch hing in der Luft. Es waren schon fast alle da, nur Onkel Paul fehlte noch. Sie begrüßte ihre Großeltern, ihre Tante, deren Mann, ihren Cousin. Weil ihre Mutter Waise gewesen war, saßen nur ihre beiden besten Freundinnen in der Kirche. Klara ging zu ihnen und umarmte sie.
Der Pfarrer schwadronierte über den tragischen Unfall, über Schmerz und Tauer und dass der Glaube an Gott Trost spenden könne. Klara erinnerte sich an den letzten Heiligen Abend, an die Stimmung, die so plötzlich kippte, weil Paul und ihr Vater sich wie so oft in die Haare bekommen hatten. An den überstürzten Aufbruch ihrer Eltern. An die letzte Umarmung ihrer Mutter, ihren warmen Blick. »Bis bald, Klara.«
Bis bald. Eine halbe Stunde später gab es kein bis bald mehr. Da war ihr besoffener Vater mit dem Wagen frontal gegen einen Baum geknallt. Wut stieg in Klara auf. Sie kannte diese Wut. Sie begleitete sie bereits seit Monaten. Es war gut, dass sie da war. Sie zu spüren zeigte Klara, dass sie noch lebte. Denn alle anderen Gefühle hatten sich seit dem Tod ihrer Mutter nach und nach verflüchtigt.
Als die Zeremonie vorbei war, kam die Großmutter auf Klara zu. »Liebes, begleite uns doch bitte ins Krankenhaus. Ich glaube, das täte deinem Vater gut.«
Klara schnaubte. »Hat es ihm auch gutgetan, wieder mit dem Trinken anzufangen?«
»Hat er das denn? Das wissen wir doch gar nicht«, wandte die Großmutter ein.
»Hast du vergessen, dass er Alkohol im Blut hatte? Nüchtern wäre er wohl kaum einfach so gegen einen Baum gefahren«, konterte Klara. »Abgesehen davon bekommt er doch ohnehin nichts mehr mit.«
»Ach Klara.« Die Großmutter schüttelte den Kopf, dann wandte sie sich ab. »Wie immer um Vier bei uns«, sagte sie im Gehen.
Am Nachmittag, kurz bevor Klara ihr Appartement verlassen wollte, sah sie, dass die Krähe wieder da war. Unbeweglich saß sie auf der Brüstung und starrte durch die Glasscheibe. Sofort musste Klara an ihren Vater denken, obwohl sie das eigentlich nicht wollte. Wann war das Tier zum ersten Mal aufgetaucht? Klara dachte nach. Irgendwann im Spätsommer, als ihr die Gefühle abhandengekommen waren. Klara betrachtete die Krähe, das glänzende Gefieder, die majestätische Haltung, die wissenden Augen. Sie verstand plötzlich, warum ihr Vater diese Tiere so gemocht hatte. »Du bist ihm viel ähnlicher, als du denkst, Klara«, murmelte sie leise vor sich hin. Ihre Vorliebe für Vögel, ihr Tiermedizinstudium, ihre verschlossene Art. Und leider auch ihre Vorliebe für Alkohol. Nur dass sie, anders als ihr Vater, schon vor langer Zeit aufgehört hatte mit der Trinkerei. Er hingegen war erst vor zwei Jahren dazu in der Lage gewesen. Und das auch nur, weil seine Frau gedroht hatte, ihn zu verlassen. Nachdem die Abstürze, die Streits und das ewige Versteckspiel endlich der Vergangenheit angehörten, war das Leben für Klara und ihre Mutter um vieles einfacher geworden. Bis zu diesem Rückfall am vergangenen Heiligabend.
Vor dem Haus der Großeltern parkte Klara ihren winzigen Smart neben dem Auto ihres Onkels Paul. Er war nicht beim Gedenkgottesdienst gewesen. Sie wusste nicht warum. Bei Paul wusste niemand so genau warum. Warum er sein Medizinstudium geschmissen hatte. Warum er nie geheiratet hatte. Warum er sich ständig mit seinem Bruder hatte zanken müssen. Er galt als schwarzes Schaf der Familie. Klara fand, dass Paul es sich in dieser Rolle etwas zu bequem gemacht hatte. Sie mochte ihren Onkel daher nicht besonders.
Die Großeltern begrüßten sie herzlich, doch die Stimmung unter den Anwesenden war gedämpft. Ihre Tante hantierte in der Küche, Onkel Paul und sein Schwager lungerten auf dem Sofa herum und hielten mühsam ein Gespräch über Fußball am Laufen. Ihr Cousin, nur ein Jahr älter als sie, nahm sie sofort in Beschlag und erzählte von seinem ersten Job als IT-Spezialist. Vor wenigen Monaten hatte er seinen Master in Informatik gemacht. Klara hörte ihm zu, trug aber selbst wenig zur Unterhaltung bei. Sie mochte ihren Cousin zwar, dennoch hatte sie nicht das Bedürfnis, mit ihm über die Studienprobleme zu sprechen, mit denen sie sich seit dem Tod ihrer Mutter herumschlug. Nach einer Weile verabschiedete sie sich daher, um in der Küche ihrer Tante und der Großmutter bei den Vorbereitungen zum Weihnachtsessen zu helfen. Im Hinausgehen sah sie, wie sich die Männer der Familie im Wohnzimmer zusammenrotteten, um über Politik zu diskutieren. So viel zum Thema Gleichberechtigung, dachte Klara genervt.
Das Essen verlief ereignislos, sah man einmal davon ab, dass die Gans etwas zäh war. Nachdem auf Klaras Betreiben hin alle beim Tischabräumen geholfen hatten, versammelte sich die Familie um den Weihnachtsbaum, um Bescherung zu halten. Jeder wusste in etwa, was er bekam, Überraschungen waren nicht zu erwarten. Klara hatte sich von allen Familienmitgliedern ein neues iPhone gewünscht, da ihr sechs Jahre altes Gerät seit der Krähenattacke kaum noch zu benutzen war. Bewusst umständlich schälte sie ihr neues Apple-Handy aus seiner Geschenkverpackung und bedankte sich artig bei allen Anwesenden. Es gelang ihr sogar, sich ein Lächeln ins Gesicht zu tackern. Als ihre Muskeln zu verkrampfen drohten, zog sie sich ins Arbeitszimmer ihres Großvaters zurück, um die Daten vom alten auf das neue iPhone zu übertragen.
Während des Vorgangs starrte sie in den dunklen Garten. In der Ferne blinzelte eine Straßenlaterne durch die nackten Zweige der Bäume. Plötzlich dachte Klara an die Krähe. Wo sie jetzt wohl war? Was machten Krähen nachts, wenn die Menschen warm in ihren Häusern saßen und die Tiere draußen vergaßen?
Die Übertragung dauerte eine Weile, Klara wurde noch müder, als sie ohnehin schon war. Sie wusste nicht mehr, wann sie das letzte Mal ausreichend geschlafen hatte. Es musste lange her sein.
Endlich hatten alle Daten ihren Weg auf das neue iPhone gefunden. Klara scrollte durch ihre Bildersammlung und suchte die Aufnahmen von der Krähe, aber da waren keine. Sie erinnerte sich nicht daran, sie gelöscht zu haben. »Komisch«, murmelte sie und suchte weiter. Seit dem Tod ihrer Mutter hatte sie kaum Fotos gemacht. Dann sah sie die Video-Datei vom 24. Dezember des letzten Jahres. An dem Abend hatte sie auf Wunsch ihrer Großmutter damit begonnen, die Feier zu filmen, nach dem Zank zwischen ihrem Vater und seinem Bruder dann aber damit aufgehört. Das Video war daher nur fünf Minuten lang. Klara überlegte, ob sie sich den Film anschauen wollte. Es würde ganz sicher weh tun. Aber gleichzeitig war es die Chance, ihre Mutter noch einmal zu sehen. Sie startete das Video.
Als erstes erblickte Klara nur ihre Füße. Die hochhackigen Stiefel waren damals ihr Weihnachtsgeschenk gewesen. Anschließend wanderte der Fokus langsam zu ihrer Mutter, die in der Küche dabei war, die letzten Weihnachts-Cocktails zuzubereiten, eine Familientradition, die zurückreichte bis in die Vorkriegszeit. Sie winkte ihrer Tochter mit einer halb ausgepressten Orange lachend zu. Klara hörte ihr Videoselbst kichern, die Aufnahme wackelte leicht. Dann folgte sie ihrem Filmselbst in den Wohnbereich, wo die meisten Anwesenden bereits einen Cocktail in der Hand hielten. Das Glas ihres Vaters stand neben ihm auf dem Buffet im Essbereich, er unterhielt sich angeregt mit seinem Schwager und drehte der Film-Klara den Rücken zu, ebenso wie Onkel Paul, der an der Wand lehnte, aber noch kein Glas in der Hand hielt und in seinen Hosentaschen herumnestelte. Es folgte ein wackeliger Schwenk zur Sofaecke, Großmutter samt Tochter und Enkel lachten dort schallend über etwas, das der Großvater gesagt hatte, niemand bemerkte, dass die Film-Klara alles aufnahm. Jetzt schwenkte die Kamera zurück zu ihrem Vater, Paul und dem Schwager. Ihre Mutter betrat den Raum, die Aufmerksamkeit richtete sich auf sie. Der Fokus veränderte sich erneut, Film-Klara wich langsam ein paar Schritte zurück, um alle Anwesenden im Bild zu haben. Die Mutter hielt eine kurze Ansprache, die Familienmitglieder prosteten sich zu und tranken. Und dann ranzte ihr Vater seinen Bruder an. Weil sich alle durcheinander unterhielten, konnte Klara nicht verstehen, was er sagte. Aber offenbar war etwas vorgefallen. »Du bist so ein Arsch!«, schrie ihr Vater seinem Bruder wütend ins Gesicht. Jetzt hörten alle auf zu sprechen, ein peinliches Schweigen breitete sich aus. Die Aufnahme wackelte, Klara hörte ihr Filmselbst seufzen. »War nur ein Scherz!«, versuchte Paul abzuwiegeln. Dann endete das Video.
Klara erinnerte sich, dass ihr Vater kurz darauf gemeinsam mit ihrer Mutter die Feier überstürzt verlassen hatte, ohne weiter auf das Geschehen einzugehen. Aus Paul war auch nichts herauszubekommen gewesen, also ließ die Familie die Sache auf sich beruhen, schließlich gerieten die beiden ständig aneinander. Wenig später dann geschah das Unvorstellbare und der Vorfall geriet in Vergessenheit.
Klara hielt inne. Weswegen hatten die beiden Brüder sich gestritten? Es war ungewöhnlich für ihren Vater, so heftig zu reagieren. Klara startete das Video erneut. Stiefel, halb ausgepresste Orange, ihr Vater, der Schwager, Paul, die lachende Restfamilie in der Sofaecke, wieder Vater, Schwager, Paul, ihre Mutter, Ansprache – Stopp! Da war etwas. Klara spulte zurück bis zu dem Punkt, an dem die Rede begann. Jetzt sah sie genau hin. Onkel Paul bewegte sich unmerklich auf seinen Bruder zu, bis er neben dessen Glas mit dem alkoholfreien Cocktail stand. Dann holte er etwas aus der Hosentasche und fummelte daran herum. Mit einer hastigen Bewegung schüttete er den Inhalt eines kleinen Fläschchens ins Glas ihres Vaters, während alle Augen auf ihre Mutter gerichtet waren.
Klara stoppte das Video, ihre Wangen glühten. Was für eine Scheiße hatte ihr Onkel denn da abgezogen? Sie ließ den Film weiterlaufen, sah wie ihr Vater einen Schluck des Cocktails trank und sich seinem Bruder zuwandte, der direkt neben ihm stand. Jetzt konnte sie sein Gesicht erkennen, es wirkte angeekelt. Er zischte Paul etwas ins Ohr. Obwohl Klara die Lautstärke höher regelte, konnte sie nicht verstehen, was er sagte. Aber sie hörte, was sein Bruder mit einem schnarrenden Lachen erwiderte. »Entspann dich, war nur Rumaroma!«
Klaras Kehle brannte, ein Feuersturm jagte durch ihren Körper. Ihr Onkel hatte seinem Bruder etwas in den Cocktail geschüttet, vermutlich irgendeinen Klaren! Und weil ihr Vater seit über einem Jahr abstinent war, hatte er den Schnaps natürlich sofort herausgeschmeckt. Rumaroma? Wohl kaum. Was für ein bescheuerter Streich! Wusste Paul etwa nicht, dass auch kleinste Mengen von dem hochprozentigen Zeug bei einem trockenen Alkoholiker zu einem Rückfall führen konnten? Oder hatte er das Risiko sehr wohl gekannt und es genau aus diesem Grund getan? Kein Wunder, dass ihr Vater ausgerastet war.
Klaras Müdigkeit war mit einem Schlag verflogen. Sie nahm ihr iPhone und marschierte zu ihrem Onkel. »Wir müssen reden! Draußen!«, fauchte sie ihm ins Ohr. Als er ihren Gesichtsausdruck sah, wirkte er zuerst überrascht, doch dann machte sich Resignation in seinen Zügen breit.
»Geh vor, ich komme gleich nach«, sagte er müde.
Klara zog sich ihren Daunenmantel an und wartete auf der seitlichen Terrasse, die nur mäßig durch eine funzelige Laterne erhellt wurde und vom Wohnzimmer nicht einzusehen war. Nässe durchtränkte den Garten, der Geruch sterbender Blätter stieg vom Boden auf. Es war kühl, Klara jedoch nahm davon nichts wahr, die Wut in ihrem Inneren wärmte sie. In der Ferne krächzte ein Vogel.
Als Paul nach fünf Minuten endlich auftauchte, ignorierte er Klara zunächst und zündete sich eine Zigarette an, um den Rauch tief in seine Lunge zu inhalieren. Sie hasste es, wenn er sich in einem Kokon aus Qualm versteckte. So einfach entkommst du mir nicht, dachte sie, wedelte die Schwaden zur Seite und hielt ihm das Video unter die Nase. An der Stelle, wo Paul seinem Bruder etwas in den Cocktail geschüttet hatte, stoppte sie. Das Gesicht ihres Onkels blieb regnungslos. »Das war kein Rumaroma, nicht wahr?« Sie spulte etwas zurück und ließ den Film nochmal bis zur gleichen Stelle laufen. »Was hast du ihm in den Drink getan?« Ihr Onkel schwieg. »Los, sag schon!«, fauchte Klara. »War es Schnaps?«
»Ja. Es war Schnaps.« Pauls ausdrucksloses Gesicht machte Klara noch wütender, als sie ohnehin schon war.
»Warum?« Paul schwieg. Sein Blick fokussierte einen Punkt neben ihrem Kopf. Klara stampfte mit dem Fuß auf, wiederholte: »Warum?« Doch Paul sagte nichts. »Rede schon, los!«, schrie sie. Und dann sah er sie unvermittelt an, sein Gesicht erodierte, tiefe Furchen bildeten sich um Mund und Augen, die Haut schien ihre Spannkraft verloren zu haben.
»Weil er ein Mistkerl war«, flüsterte er.
»Was?«
»Er hat sie mir weggenommen.« Pauls Blick ging jetzt wieder durch sie hindurch.
»Wen hat er dir weggenommen?«, frage Klara konsterniert.
»Jule, deine Mutter.«
»Wie bitte?!«
»Bevor sie ihn kennenlernte, war sie mit mir zusammen. Hat dir das nie jemand erzählt?« Klara schüttelte den Kopf. »Wir waren bereits eine Weile verlobt, da kam er von seinem Auslandsaufenthalt zurück. Zwei Monate später hat sie mit mir Schluss gemacht. Ich konnte sie nicht umstimmen. Er hat sie mit seinem charmanten Gelaber zu sich gelockt und sie mir weggenommen, dabei war sie die Liebe meines Lebens.«
»Und meine Mutter hatte dabei kein Wörtchen mitzureden?«, fragte Klara provokant und zog eine Schnute. »Es war ihre Entscheidung. Sie hat dich verlassen. Sowas kommt vor. Zufälligerweise war der Mann, für den sie dich in den Wind geschossen hat, dein Bruder, aber es hätte auch jeder andere sein können. Offensichtlich gefiel ihr mein Vater besser als du. Und deswegen musstest du ihm nach dreißig Jahren Schnaps in den Drink schütten und einen Rückfall provozieren?«
Pauls Gesicht wirkte, als sei eine Dampfwalze darübergefahren. »So einfach war es nicht. Dass sie ging, hat mein Leben zerstört. Ich brach das Studium ab, begann verschiedene Ausbildungen, nichts interessierte mich mehr. Mit Ach und Krach schaffte ich es, eine Anstellung in einem Buchladen zu finden. Das funktionierte halbwegs und ich blieb dabei. Aber ich fand nie wieder eine Frau, für die ich auch nur ansatzweise so viel empfand wie für Jule. Und all das nur, weil er die Finger nicht von ihr lassen konnte!«
»Dein verpfuschtes Leben ist also die Schuld meines Vaters, weil er dir angeblich die Frau ausgespannt hat? Wie praktisch!«, ätzte Klara.
»Was weißt du schon!«, fuhr Paul sie an. »Hast du schon mal jemanden wirklich geliebt?« Klara schnaubte verächtlich. »Ich habe geliebt, so sehr geliebt! Jule bedeutete mir alles. Und dann musste ich mit ansehen, wie sie immer unglücklicher wurde, als Jens kurz nach deiner Geburt das Trinken nicht mehr in den Griff bekam. Wie oft versprach er ihr, mit dem Alkohol aufzuhören. Nie, nie, nie hielt er sein Versprechen. Wie oft flehte ich sie an, ihn zu verlassen und mit mir ein neues Leben anzufangen. Aber sie blieb, glaubte ihm, wieder und wieder, hoffte jedes Mal aufs Neue und wurde doch stets enttäuscht.« Paul starrte zu Boden, seine Zigarette war heruntergebrannt, ohne dass er noch einmal daran gezogen hatte.
»Dein Plan war also, dass er durch den Schnaps einen Rückfall bekommt und sie ihn dann endgültig verlässt?«, fragte Klara ungläubig.
»Ich dachte, wenn er an dem Abend die Contenance verliert und es wie ein Rückfall aussieht, dann würde sie ihn verlassen. Sie hatte mir geschworen zu gehen, sollte er sein Versprechen noch einmal brechen. Aber wer kann denn ahnen, dass er gleich so durchdreht und die Feier verlässt, um gegen einen Baum zu fahren?!« Paul warf die noch glimmende Zigarette auf den Boden und trat sie mit dem Schuh aus.
»Du bist so ein Idiot«, sagte Klara verächtlich.
»Ja, das bin ich«, gab er zu.
»Deswegen hatte Papa also Alkohol im Blut. Es war gar keinen Rückfall wie ich immer annahm«, sagte Klara leise. Unvermittelt musste sie daran denken, dass sie ihren Vater seit dem Unfall kein einziges Mal im Krankenhaus besucht hatte. Ihr schlechtes Gewissen schlug seine Faust mit Karacho in ihre Magengrube, keine helfende Wut weit und breit in Sicht. Tränen schossen ihr in die Augen. »Scheiße«, flüsterte sie. Doch sie fing sich schnell wieder, als ihr etwas klar wurde. »Laut Polizeibericht befand sich nur 0,3 Promille Alkohol in seinem Blut. Ich dachte immer, die hätten sich bei der Messung vertan, aber der Wert stimmte, nicht wahr?«, fragte sie. Sie bemerkte, dass Paul erneut durch sie hindurchsah. »Wenn es tatsächlich nur 0,3 Promille waren, dann passt da etwas nicht zusammen. Er ist früher schon mit viel mehr gefahren, ohne dass man es gemerkt hätte!« Ihre Rede überschlug sich. »Die Augenzeugen sagten, er sei in der Kurve einfach geradeaus und gegen den Baum gefahren. Und er hatte keinen Herzinfarkt oder Schlaganfall!« Klara starrte Paul an. Das Wasser in seinen Augen war nicht die Feuchtigkeit, die aus dem Garten herüberkroch. »Was hast du ihm noch in den Drink getan?«, schrie sie.
Paul begann zu schluchzen. »Ich muss die K.O.-Tropfen zu stark dosiert haben, ich wollte doch nur, dass er ein bisschen herumeiert. Es sollte wie ein Rückfall aussehen, damit Jule ihn endlich verlässt. Bitte Klara, du musst mir glauben!«
Ohne dass sie darüber nachdachte, landete ihre Faust mit einem unschönen Geräusch auf Pauls Nase, Blut tropfte auf seinen Mantel. »Du hast sie umgebracht!«, schrie Klara und holte zu einem weiteren Schlag aus, doch Paul wich ihr aus. Sie keuchte, ein stechender Schmerz machte sich in ihrer Hand bemerkbar.
»Klara, bitte, ich wollte das nicht! Ich habe Jule geliebt!«, jaulte Paul und hielt sich ein Taschentuch unter die Nase. Ernüchtert sah sie ihren Onkel an. Jedes noch so kleine Gefühl für ihn war reine Verschwendung. Sie holte ihr iPhone aus der Jackentasche.
»Ich werde jetzt die Polizei rufen«, sagte sie kalt. »Die interessieren sich sicher für meinen kleinen Film.«
»Klara, bitte!« Paul schrumpfte auf die Größe eines verkrümmten Zwergs zusammen. Sie begann den Polizeinotruf zu wählen, doch bevor sie sich melden konnte, schoss plötzlich etwas Schwarzes herab und attackierte das Smartphone, sodass es ihr aus der Hand und ins Blumenbeet fiel. Entgeistert blickte Klara hinauf in die Dunkelheit, wo sich ein Schatten auf der Regenrinne niederließ.
»Krah, krah, krah.«
»Was zur Hölle …!« Sie fischte ihr iPhone aus der Rabatte und untersuchte es. Dieses Mal hatte es keinen Schaden genommen. »Was fällt dir ein!«, schimpfte Klara in den Himmel. Neben ihr wimmerte Paul, er lag auf dem Boden und hatte sich wie ein Embryo zusammengerollt.
»Krah, krah, krah.«
Nachdenklich sah Klara hinauf zum Dach, wo sie den Umriss der Krähe mehr erahnen als sehen konnte. Ihre Wut wärmte nicht mehr, stattdessen begann sie zu frösteln.
»Krah, krah, krah.«
»Ist ja gut!«, sagte sie und steckte ihr Smartphone in die Tasche. Dann beugte sie sich zu Paul hinunter, dessen Wimmern mittlerweile in unkontrolliertes Schluchzen übergegangen war. Nachdem Klara ihn ein paar Mal kräftig geschüttelt hatte, hörte das Heulen auf und sie konnte ihm beim Aufstehen helfen. »Ich denke, es ist nicht nötig, die Polizei zu rufen. Du hast deine Strafe bereits erhalten«, sagte sie. Pauls Blick ging an Klara vorbei ins Nirgendwo, sein Gesicht war von Blut und Tränen verschmiert. »Wasch dich und geh dann nach Hause.« Sie schubste ihn Richtung Schiebetür.
»Krah, krah, krah.«
Mit einem letzten Blick zum Dach verließ Klara die Terrasse. Drinnen verabschiedete sie sich. Die Großmutter begleitete sie zur Haustür, ihr trauriger Blick machte Klara zu schaffen. »Morgen besuche ich Papa«, sagte sie ernsthaft. Das Gesicht der alten Dame leuchtete auf, sie drückte ihre Enkelin und wünschte ihr eine gute Heimreise.
Am Morgen, als sie aufstand, saß die Krähe nicht auf dem Geländer ihrer kleinen Loggia. Klara war irritiert, so als hätte ein alter Freund eine Verabredung ohne Grund abgesagt. Sie hielt einen Augenblick inne und lauschte, doch sie hörte kein krah, krah, krah, weder in der Nähe noch in der Ferne. Nachdenklich ging sie ins Bad, um sich frisch zu machen. Während sie ihre Haare zum Pferdeschwanz band, schenkte sie ihrem Spiegelbild ein Lächeln. Es war ein echtes Lächeln, warm und verheißungsvoll. Anschließend frühstückte sie ausgiebig. Das erste Mal seit langer Zeit schmeckte es ihr wieder.
Zwei Stunden später setzte sich Klara ans Bett ihres Vaters und griff nach seiner Hand. Sie war warm und weich und fühlte sich lebendiger an als alles, was sie je zuvor angefasst hatte. Das Piepsen und Rauschen der Maschinen erschienen Klara wie Echos aus einer anderen Dimension. Fast erwartete sie, ein krah, krah, krah zu hören. Sie lächelte. »Danke, Papa.«