
Viele Forscher, aber auch Ärzte und Therapeuten, gehen heute noch immer davon aus, dass Menschen im Autismus-Spektrum eine – teilweise stark – eingeschränkte Theory of Mind (ToM) besitzen. Theory of Mind (ToM, englisch für ›Theorie des Mentalen‹) ist ein Fachbegriff der Psychologie für das Vermögen, mentale Zustände als mögliche Ursache eines Verhaltens zu verstehen, um eigene oder fremde Handlungen erklären und vorhersagen zu können. Dazu ist es notwendig, Gedanken, Gefühle, Absichten, Meinungen, Erwartungen und Beweggründe eines Anderen sowie die Rahmenbedingungen korrekt zu erkennen und zu verstehen. Hier besteht eine Überschneidung mit dem Begriff der Empathie. (Wikipedia)
Die ToM ist also ein gedankliches Konstrukt, um das Verhalten von Menschen zu erklären und zu verstehen. Es wurde 1978 von David Premack und Guy Woodruff eingeführt. Untersucht wird es meist anhand von »False-Belief«-Aufgaben. Beispiel: Maxi besitzt eine Schokolade, welche er beim Verlassen der Szene in Box 1 legt. In Maxis Abwesenheit nimmt seine Mutter die Schokolade aus Box 1 heraus und legt sie in Box 2. Anschließend kommt Maxi wieder und möchte gerne seine Schokolade haben. Es folgt die relevante Testfrage (»Wo wird Maxi nach der Schokolade suchen?«). Wenn die Kinder angeben, dass Maxi in Box 1 suchen werde, obwohl sie selber wissen, dass die Schokolade sich in Box 2 befindet, sind sie dazu fähig, eine falsche Überzeugung zuzuschreiben. Mit diesem Paradigma lässt sich also testen, ob die Individuen eine explizite und deutliche Repräsentation der falschen Überzeugung anderer haben. (Wikipedia)
Menschen im Autismus-Spektrum haben aus Sicht Außenstehender offenbar in diesem Bereich Probleme, da sie häufig nicht so reagieren, wie das Umfeld es von ihnen erwartet. Fakt ist, dass ihr Verhalten oft von diesem nicht verstanden wird. Für mich stellt sich allerdings die Frage, ob das an den Autist:innen oder am Umfeld liegt. Denn wie fast immer, wenn es um Autismus geht, richtet sich der Blick von außen auf die autistische Person. Die Innensicht dieses Menschen wird selten bis nie abgefragt. Und schon befinden wir uns auf dem Weg in ein unauflösliches Dilemma. Denn: Der Blick von außen ist in der Regel gleichzusetzen mit dem Blick eines neurotypischen Menschen, denn die gibt es in unserer Gesellschaft am häufigsten, ca. 80 bis 85 Prozent gelten als neurotypisch. Autist:innen sind allerdings neurodivergent. Ihre Gehirne haben sich auf ihrem Weg vom Embryo zum Erwachsenen anders entwickelt als der Durchschnitt. In der Regel nehmen sie mehr – und andere – Reize wahr als Lieschen Müller oder Otto Normalverbraucher. Ergo ist ihr Empfinden, ihr Denken, ihr Schlussfolgern und ihr Reagieren anders als sonst üblich. Eigentlich nicht schwer zu verstehen. Allerdings gibt es hier einen Haken: Der Mangel an ToM oder wahlweise Empathie, der Autist:innen gerne unterstellt wird, besteht auf der neurotypischen Seite ebenfalls: Nichtautist:innen können sich nicht oder nur schwer in Autist:innen hineinversetzen. Und das selbst, wenn ihnen vorher deren Besonderheiten bekannt waren. Da stellt sich für mich die Frage, wer hier ToM besitzt und wer nicht. In die Forschung eingegangen ist diese Überlegung als Doppeltes Empathie-Problem. Das Doppelte Empathie-Problem (engl. double empathy problem) ist eine Theorie zur Erklärung der Schwierigkeiten, die bei der sozialen Interaktion von Autisten mit nicht-autistischen (»allistischen«) Menschen auftreten. Sie geht davon aus, dass viele dieser Schwierigkeiten, die traditionell als autismusbedingte Defizite beschrieben werden, durch einen gegenseitigen Mangel an Einfühlungsvermögen für die jeweils andere Gruppe verursacht werden. Kommunikationsprobleme zwischen Autisten und Nicht-Autisten beruhten demnach auf Gegenseitigkeit, da beide Gruppen nur bedingt dazu in Lage seien, sich in die jeweils andere hineinzuversetzen. Es handele sich also nicht um dem Autismus inhärente Kommunikationsdefizite, sondern um verschiedene Kommunikationsstile, die auf beiden Seiten zu Missverständnissen führten. (Wikipedia)
Autist:innen, besonders die hochfunktionalen, versuchen in der Regel – meist von früher Kindheit an –, sich den Normen der Mehrheitsgesellschaft anzupassen. Mit ihrem Mindset fällt ihnen dies aber oft schwer. Die vielen ankommenden Reize können meist nur schwer oder verlangsamt verarbeitet werden und führen bei Kumulation zu mentaler Überforderung, Zusammenbrüchen oder zum zeitweisen – manchmal dauerhaften – Ausfall ganzer Sinneskanäle. Schon der Blick in ein Gesicht kann bereits ein Übermaß an Wahrnehmungs-Differenzierung verlangen, es kommen zu viele Reize gleichzeitig an, nicht alles kann adäquat verarbeitet werden. Was durchaus bei der autistischen Person zu einem Mangel an Verständnis für das neurotypische Gegenüber führen kann, weil wichtige Informationen verloren gegangen sind. Je reizintensiver die Situation, desto größer die Gefahr einer Überlastung des autistischen Gehirns.
Aus dieser Situation ergibt sich folgerichtig, dass Autist:innen das neurotypische Gesellschaftssystem der ungeschriebenen Regeln und Verhaltensmuster meist nicht gänzlich und fast immer deutlich später erlernen als ihre neurotypischen Altersgenossen:innen. Was wiederum bedeutet, dass die vielen Tests, die mit autistischen Kindern zur ToM gemacht wurden bzw. werden, für die Katz waren bzw. sind. Denn sie konnten bzw. können es häufig einfach noch nicht. Später im Leben verbessert sich die Situation meist, weil genügend Erfahrungen gesammelt wurden. Ein weiterer Punkt ist, dass Autist:innen Sprache anders verstehen als Nichtautist:innen, nämlich wörtlich. Was, wie ich vermute, ebenfalls mit der Masse an in der Sprache enthaltenen, aber nicht ausgesprochenen Informationen zu tun hat. Auch hier verbessert sich die Situation im Laufe der Zeit, besonders die Begabten entwickeln Dank ihrer kognitiven Leistungsfähigkeit eine elaborierte Sprache und fallen daher häufig kaum noch auf.
Sowohl die differenzierte Reizverarbeitung als auch das Doppelte Empathie-Problem dürften neben dem anderen Sprachverständnis die Versuche zu den »Fals-Belief«-Aufgaben mit autistischen Kindern stark beeinflussen. Offensichtlich prallen hier zwei Welten aufeinander, die der neurotypischen Forscher und die der neurodivergenten Kinder. Wie sicher können sich die Wissenschaftler:innen sein, dass ihre Ergebnisse richtig sind? Ich sage mal: gar nicht. Nebenbei: Es gibt noch etwas, dass nennt sich Versuchsleiter-Artefakt. Versuchsleiter-Artefakt wird in der Sozialpsychologie das Resultat eines Versuchsleiter-Versuchspersonen-Verhältnisses bezeichnet, durch das sich positive Erwartungen, Einstellungen, Überzeugungen sowie positive Stereotype des Versuchsleiters in Form einer »selbsterfüllenden Prophezeiung auf das Ergebnis eines Experiments auswirken. (Wikipedia) Im Fall der »False-Blief«-Aufgaben könnte es die Erwartung sein, dass bei autistischen Kindern ein Defizit in ihren ToM-Fähigkeiten vorliegt. Diese Erwartung beeinflusst das Verhalten der den Versuch leitenden Person unbewusst dahingehend, dass sie durch ihr Benehmen das angenommene Ergebnis beim autistischen Kind provoziert.
Mir persönlich fällt es oft schwer, neurotypische Menschen zu verstehen. Sie sagen Dinge, die sie nicht so meinen, benehmen sich irrational und sprunghaft, lügen und missachten sinnvolle Regeln. Nicht bei allen ist das immer und dauerhaft so, aber bei vielen. Ich versuche durch rationales Schlussfolgern, mir dieses Verhalten begreiflich zu machen und zu verstehen, warum eine Person in einer bestimmten Situation auf diese oder jene Weise handelt oder spricht, aber mir gelingt es nicht immer. Wenn ich mich mit mir unbekannten Menschen unterhalte, entschlüsselt mein Verstand in Windeseile den Gesichtsausdruck und das, was gesagt wird. Manchmal fehlt mir dabei die Kohärenz zwischen beidem. Dann bin ich mit meinem Latein am Ende – trotz eines mittlerweile enormen Erfahrungsschatzes – und weiß nicht, wie ich mich verhalten soll. Meistens tue ich dann gar nichts und beobachte die Situation so lange, bis ich eine ungefähre Ahnung habe, wie es jetzt von meiner Seite aus weitergehen könnte. Manchmal, wenn ich eine schlimme Situation, die ich selbst bereits erlebt habe, bei einem anderen Menschen sehe, überwältigt mich das Mitgefühl so, dass ich völlig überfordert bin. Dann ist es für mich so, als würde mir widerfahren, was die betroffene Person gerade erlebt. Als junger Mensch war das bei mir sehr stark ausgeprägt. Mittlerweile habe ich gelernt, mich vom Erleben Anderer besser zu distanzieren. Vermutlich ist es bei mir so wie bei vielen Autist:innen: Autistische Kinder haben in der Regel eine im Vergleich zum Durchschnitt vergrößerte Amygdala (Teil des limbischen Systems, spielt eine wichtige Rolle bei der Verarbeitung von Emotionen und ist eng mit dem Gedächtnis und der Bewertung von Situationen verbunden.), während sie bei erwachsenen Autist:innen verkleinert ist. Das deutet darauf hin, dass sich im Kindesalter dieser Bereich des autistischen Gehirns durch starke Beanspruchung bei der Verarbeitung von Emotionen, besonders von Angst, vergrößert. Was wiederum in Laufe des Erwachsenwerdens dazu führt, dass sich – bedingt durch die ständige Überforderung – das System erschöpft und schrumpft. Oder die erwachsenen Autist:innen gelernt haben, ihre Emotionen abzublocken. Das ist vermutlich auch der Grund, warum sie so gerne auf Sachebene kommunizieren und Gefühle aussparen. Es vereinfacht den Umgang mit anderen Menschen erheblich, selbst auf die Gefahr hin, als verkopft und gefühlskalt wahrgenommen zu werden.
Autist:innen, heißt es immer, leben in ihrer eigenen Welt. Nun ja. Auch Nicht-Autist:innen tun das. Sehr häufig überschneiden sich diese beiden Welten, manchmal wenig, manchmal mehr und nur sehr selten gar nicht. Es wäre hilfreich, wenn das endlich alle anerkennen würden. Dann könnte die Mehrheit aufhören, einer Minderheit irgendwelche Defizite anzudichten bzw. eine Andersartigkeit zu einem Problem zu erklären. Dann könnten wir unvoreingenommen miteinander reden und uns – vielleicht – irgendwann besser verstehen.