Kreativitäts-Killer Depressionen

Es gibt viele berühmte Schriftsteller:innen, von denen bekannt ist, dass sie depressiv waren oder sind. Ernest Hemingway beispielsweise. Oder Sylvia Plath. Oder Ferdinand von Schirach. Oder Virginia Woolf. Oder David Foster Wallace. Der Mythos besagt: Literatur entsteht vornehmlich dann, wenn gequälte Autor:innen sie sich aus der gemarterten Seele kratzen. Der Psychiater Felix Post untersuchte 1996 hundert amerikanische und britische Autor:innen, seine Ergebnisse veröffentlichte er im »British Journal of Psychiatry«. Seine Studie lässt aufhorchen: Über achtzig Prozent der Autor:innen litten an Depressionen. Posts Hypothese ist, dass die Schriftsteller:innen durch ihre außergewöhnliche Vorstellungskraft ihre Gehirne überlasten und deshalb häufiger an psychischen Problemen leiden. Mag ja sein. Ich habe da eine etwas andere Theorie.

Dass Kreativität in der Regel mit einer niedrigen latenten Hemmung – oder anders ausgedrückt: Reizfilterschwäche – einhergeht, ist mittlerweile bekannt. In meinem Blogbeitrag »Hoch begabt oder hoch bekloppt?« habe ich den Zusammenhang bereits näher beleuchtet. Da Schriftsteller:innen gemeinhin als äußerst kreativ gelten, lässt das den Rückschluss zu, dass sie tatsächlich eine schwächer ausgeprägte Reizfilterung haben als der Durchschnitt. Ein schwächer ausgeprägte Reizfilterung – wie sie Hochsensible und Menschen mit ADHS oder Autismus haben – führt allerdings häufig zu Überlastungszuständen, da – anders als bei weniger reizoffenen Personen – viel mehr Informationen wahrgenommen und verarbeitet werden müssen. Und zwar nicht nur solche, die den Körper von außen erreichen, sondern auch die aus seinem Inneren. Oder eben Assoziazionsfluten, die als Reaktion auf Ankommendes durch das Gehirn gespült werden. Es ist leicht nachzuvollziehen, dass auf diese Weise ständig ein regelrechtes Gewitter im Kopf tobt.

Kommen jetzt noch fordernde Lebensumstände hinzu, dann ist es bis zur Depression nicht mehr weit. Natürlich haben nicht alle Autor:innen Depressionen. Und auch nicht jede autistische Person. Oder jeder Mensch mit ADHS. Doch die Prävalenz für Depressionen innerhalb dieser Personengruppen ist deutlich höher als im Durchschnitt. 57 Prozent der autistischen Menschen leiden an Depressionen, in der Allgemeinbevölkerung sind es nur sechs Prozent. Rund 50 Prozent der ADHSler:innen entwickeln eine Depression oder Angststörung. Ob die 80 Prozent Depressionsrate bei Schriftsteller:innen, die der eingangs erwähnte Post ausgemacht hat, stimmen, ist schwer zu sagen. Aber es ist durchaus möglich. Interessant wäre in diesem Zusammenhang, wie viele Schriftsteller:innen im Autismus-Spektrum sind oder ADHS haben. Aussagekräftige Zahlen dazu habe ich nicht gefunden. Aber mit Sicherheit gibt es hier Korrelationen.

Kreativität war für mich schon seit frühster Kindheit ein wichtiger Teil meines Lebens. Noch bevor ich richtig sprechen konnte, lebte ich in meiner Fantasie. In meinem Kopf tat ich Dinge, die ich in der Realität nicht tun konnte. In einer mich beschränkenden Welt bedeutete der Rückzug in meine Gedanken grenzenlose Freiheit. Kaum Freunde zu haben, störte mich nicht. Wenn ich mit jemandem Zeit verbringen wollte, dann brauchte ich nur in meine Fantasie einzutauchen. Ich weiß nicht genau, wie viel Zeit ich in meinen zahlreichen Paralleluniversen verbrachte, aber es dürften Jahre gewesen sein. Die Ideen zu meinen Bildern, Büchern und Geschichten speisten sich aus diesem schier unerschöpflichen Reservoir. Ich hatte keine Ahnung, wie es war, keine Fantasie zu haben und nicht kreativ zu sein. Langeweile kannte ich nicht, weder als Kind noch als Erwachsene. Irgendwas war immer los in meinem Kopf. Mit Hilfe von Fantasie und Kreativität überwand ich manche Lebenskrise, oft waren sie meine Anker in stürmischer See. Wenn die Welt mich mit unerträglich vielen Reizen bombardierte und mich überforderte, dann gab es da einen Ort, an den ich mich flüchten konnte, um mich zu erholen. Dass ich meine Fantasie und mit ihr meine Kreativität irgendwann verlieren könnte, war für mich unvorstellbar.

Dann kamen die Depressionen.

Eine Abfolge privater Lebenskatastrophen warf mich aus der Bahn und hinein in das, was in früheren Zeiten Schwermut hieß. Die Leere, die sich schleichend in mir ausbreitete, war allumfassend und lähmend. Es fühlte sich an, als sei ein Teil von mir gestorben. Meine Paralleluniversen verschwanden. Meine Ideen suchten das Weite. Meine Kreativität verwandelte sich vom wundersamen Flügeldrachen in ein lahmendes Huhn. Das zudem keine Lust hatte, mir zu Diensten zu sein. Schreiben und zeichnen konnte ich jetzt nicht mehr. Fotografieren auch nicht. Selbst das Denken fiel mir schwer. Und wenn ich es trotzdem versuchte, kam nichts dabei heraus. Ich hatte meine Heimat verloren. Zum ersten Mal in meinem Leben war ich allein. Richtig allein.

Es hat mich fertig gemacht.

Mittlerweile geht es mir besser, aber der Drache ist noch immer etwas flügellahm. Und oft hat er keine Lust. Dann sitzt er schmollend in der Ecke und ignoriert mich. Da hilft kein Schimpfen und kein Betteln. Da hilft nur Zeit.

Und wenn irgendjemand auf dieser Welt denkt, dass Depressionen ein Zeichen für Kreativität sind, oder dass nur ein leidender Kreativer ein guter Kreativer ist, dann irrt er sich. Und zwar gewaltig. Wenn jemand, der an wiederkehrenden Depressionen leidet, schreibt oder malt oder anderweitig kreativ ist, dann ist er das nicht, weil er depressiv ist, sondern obwohl er depressiv ist.

Depressionen killen die Kreativität. Und mit ihr oft den Menschen.

Alles andere ist Bullshit.

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