Mängelexemplar!?

Grundsätzlich stört mich die Defizitorientierung bei der Betrachtung von Autist:innen im Speziellen und neurodivergenten Menschen im Allgemeinen. Ich fühle mich nicht als Mängelexemplar, mein Gehirn arbeitet nur anders. Und daraus ergeben sich Passungsprobleme, die mich teils stark einschränken. Die neurotypische Mehrheitsgesellschaft, in der ich notgedrungen leben muss, ist in vielen Bereichen nicht das, was ich brauche, um meine Begabungen zum Nutzen aller leben zu können. Dabei wollte ich das immer. Und würde es auch jetzt gerne. Doch je älter ich werde, desto mehr nimmt meine Kapazität zur Anpassung ab.

Neurodivergente Personen sind anders. Und das Andere ist das, wovor Menschen aller Kulturen seit jeher Angst haben. Denn es könnte ja eine Bedrohung sein. Und die meidet man lieber. Evolutionär betrachtet macht das durchaus Sinn, denn der Höhlenmitbewohner, der sich plötzlich seltsam verhielt, hätte eine ansteckende und tödliche Krankheit in sich tragen können. Deshalb ist die Angst vor allem, was uns fremd ist, tief in unseren Genen verankert. Und so ist es bis heute geblieben, aller Inklusionsbemühungen zum Trotz. Die komische Mitschüler:in wird – im besten Fall – gemieden, im schlimmsten gemobbt oder ärgeres. Dabei sind neurotypische und neurodivergente Personen doch in erster Linie eines: Menschen. Mal mehr, mal weniger unterschiedlich. Warum zeigen neurotypische Menschen mit dem Finger auf angebliche Defizite neurodivergenter Personen? Weil sie die Mehrheit sind? Weil sie deshalb glauben, vorgeben zu können, wie die Norm zu sein hat? Das ist, unabhängig davon, dass es alle, die nicht zum »Mainstream« gehören, diskriminiert, überheblich und sehr, sehr kurzsichtig. Denn die vermeintlichen Mängel der neurodivergenten Mitmenschen können sich im richtigen Kontext durchaus als Stärken erweisen. Das, was an einer Stelle vielleicht ein Problem darstellt, kann an anderer dessen Lösung sein. Und davon profitiert die ganze Gesellschaft.

Wäre Greta Thunberg normal und nicht autistisch, gäbe es heute vermutlich keine Fridays-for-Future-Bewegung. Einige Prominente aus Wissenschaft, Kunst und Kultur haben eine offizielle Autismusdiagnose. Unternehmer Elon Musk bspw. Oder die Schauspieler:innen Darryl Hannah, Sir Anthony Hopkins und Dan Aykroyed. Jazzpianist Matt Savage. Musikerin und Schauspielerin Courtney Love. Der Künstler Stephen Wiltshire. Temple Grandin, Tierwissenschaftlerin und Autismusforscherin. Es existieren auch jede Menge historische Persönlichkeiten, die von Experten:innen als Autist:innen eingestuft werden. Physiker Isaac Newton bspw. Oder Henry Cavendish, der Naturphilosoph. Albert Einstein. Wolfgang Amadeus Mozart. Andy Warhol. Die Liste ließe sich fortsetzen.

Oh, ich höre schon das Geschrei der Kritiker: Nicht jeder Mensch mit Autismus hat eine Superkraft und bringt es zu etwas! Das stimmt. Und stimmt auch wieder nicht. Natürlich umfasst das Spektrum auch Personen, die fast ausschließlich in ihrer eigenen Welt leben, nicht oder nur eingeschränkt auf herkömmliche Weise kommunizieren und extrem auf Hilfe angewiesen sind. Auch wenn sie von außen so wirken, sind sie häufig nicht kognitiv eingeschränkt. Die Zahl der tatsächlich intelligenzgeminderten Autisten liegt laut neueren Schätzungen zwischen 30 und 50 Prozent. Ich persönlich denke, dass es weniger sind, denn wie soll man die Intelligenz eines Menschen ermitteln, der nicht kommunizieren kann oder will? Selbst die Autist:innen, die sprechen und kooperieren, haben mit den meisten gängigen IQ-Tests Probleme, denn diese setzen sowohl bei den Aufgaben als auch bei den Anleitungen ein »normales« Sprachverständnis voraus. Doch gerade hieran hapert es bei autistischen Menschen gerne. Verwendet man hingegen sprachfreie Tests, die nur wenig Anleitung benötigen, schneiden Autist:innen deutlich besser ab. Unabhängig davon wird jeder IQ-Test an neurotypischen Menschen geeicht und nicht an Autist:innen. Auch das spielt sicher eine große Rolle. Michelle Dawson, selbst Autistin und brillante Autismusforscherin, ist der Meinung, dass Autist:innen eine ganz eigene Form der Intelligenz besitzen, die von den üblichen Tests nicht erfasst werden kann. Und damit hat sie sicher recht.

Wie heißt es so schön: Kennst du einen Autisten, kennst du genau diesen einen Autisten. Menschen im Autismus-Spektrum sind sehr unterschiedlich. Doch eines vereint sie: Sie denken vom Detail zum Ganzen. Das macht sie gut in Dingen, die neurotypischen Personen deutlich weniger liegen. Und kann in meinen Augen tatsächlich eine Art Superkraft sein. Wenn, ja wenn der autistische Mensch eine Nische findet, in der er diese Fähigkeit nutzen kann. Leider ist das heute immer noch viel zu selten der Fall. Autismus kann dann zu einer Behinderung werden. Wenn das Umfeld nicht passt. Wenn das Verständnis fehlt. Wenn Stärken aberkannt und Schwächen überbetont werden. In einer idealen Welt könnten als autistisch erkannte Kinder von klein auf ihre Stärken entwickeln und damit ihre Schwächen kompensieren. Unter Anleitung von Lehrer:innen und Erzieher:innen, die entweder selbst Autist:innen sind oder zumindest genau wissen, wie mit autistischen Menschen umzugehen ist. Dann ständen die Chancen deutlicher besser, dass eine autistische Person eine Nische findet, in der sie für sich und für die Gesellschaft etwas erreichen kann. Allerdings würde dies bedeuten, dass sich der Blick auf Autist:innen im Speziellen und neurodivergente Menschen im Allgemeinen gesamtgesellschaftlich verändern müsste. In Ansätzen geschieht das bereits. Doch es liegt noch ein weiter Weg vor uns. Schwierig ist es auch deswegen, weil sich unser Gesundheitssystem naturgemäß auf die Heilung von Krankheiten fokussiert. Wer Hilfe haben will, braucht eine Diagnose, ohne geht es nicht. Und eine Diagnose ist immer eine Abgrenzung zur Norm, zum »Durchschnittsmenschen«, ganz besonders im psychischen Bereich. Das schärft den Blick auf die Defizite und drängt die Stärken in den Hintergrund. Besser wäre es, zumindest in der Psychiatrie eine an den speziellen Bedürfnissen der Patienten orientierte Behandlung zu etablieren, die auf Diagnosen weitestgehend verzichtet und bei dem ansetzt, was die Menschen bereits können. Frei nach dem Motto Maria Montessoris: Hilf mir, es selbst zu tun.

Gerade heute, wo von allen oft und gerne Unterschiede betont und Grenzen errichtet werden, wäre es befreiend, wenn wir ohne Vorbehalte aufeinander zugehen könnten. Egal ob wir Mann, Frau oder irgendwas dazwischen sind. Egal ob unsere Hautfarbe schwarz, weiß oder bunt ist. Egal ob wir Männer, Frauen oder Dinge lieben. Egal ob wir an Gott – gleichgültig an welchen – glauben oder nicht. Egal ob wir zu dieser Nation gehören oder zu jener. Egal ob wir einen normal funktionierenden Körper besitzen oder nicht. Und egal ob wir mit einem neurotypischen Gehirn geboren wurden oder mit einem neurodivergenten.

Denn Mensch bleibt Mensch.

Quellen

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